Schätze der Sammlungen
Die Mutterkorn Impf- und Erntemaschine „Goldhamster“ [21.06.17]
Wahnvorstellungen, Krämpfe und Durchblutungsstörungen bis hin zum Absterben von Fingern und Zehen, dazu das Gefühl innerlich zu verbrennen: Das sind die Symptome einer Mutterkorn-Vergiftung. Ab dem Mittelalter ist die Krankheit deshalb auch als „Antoniusfeuer“ bekannt.
Der Schuldige: Der Mutterkornpilz. Auf Getreideähren bildet er mehrere Zentimeter lange, gekrümmte schwarzbraune Fruchtkörper. Gelangen diese sogenannten Mutterkörner mit den Getreidekörnern zusammen ins Mehl, ist dieses in den meisten Fällen unbrauchbar.
Krank durch Roggenbrot
Von allen Getreidearten bevorzugt der Pilz ausgerechnet den Roggen, der bis ins 20. Jahrhundert das am weitesten verbreitete Brotgetreide ist. Das dunklere Roggenbrot kommt vor allem bei der ärmeren und ländlichen Bevölkerung auf den Tisch (ganz im Gegensatz zur Gegenwart, in der Roggen nur noch 10 % der Anbaufläche von Getreide einnehmen. Zu Unrecht, wie Wissenschaftler der Universität Hohenheim finden, weshalb sie dem Roggen mit neuen Zucht-Verfahren zum Comeback verhelfen wollen – aber das ist eine andere Geschichte).
Im Lauf der Jahrhunderte verursacht der Getreideparasit mehrere Epidemien mit Zehntausenden von Toten und Erkrankten in Europa, besonders in kühlfeuchten Sommern. Historiker vermuten heute, dass Mutterkorn-Vergiftungen auch eine Rolle bei den Hexenverfolgungen gespielt haben könnten: Betroffene, die an Wahnvorstellungen litten, wurden durch ihr verändertes Verhalten für Hexen gehalten. Sogar die Kunst war betroffen: Die phantastische Bildsprache der Barockkunst kann man wahrscheinlich auf Rauschzustände zurückführen.
Objekt des Monats |
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Einmal monatlich präsentiert der Hohenheimer Online-Kurier die Geschichte hinter einem Objekt einer wissenschaftlichen Sammlung, dem Deutschen Landwirtschaftsmuseum oder dem Campusgelände der Uni Hohenheim. |
Weißbrot als Heilmittel
Der Zusammenhang zwischen den schwarzen Körnern und deren Folgen wird jedoch lange nicht erkannt. Die Mönche des Antoniterordens verschreiben sich der Heilung der Krankheit und sind dabei durchaus erfolgreich.
Den Grund erklärt Frank Emmerich vom Deutschen Landwirtschaftsmuseum: „Die Mönche gaben ihren Patienten Weißbrot zu essen. Da Weizen seltener von Mutterkorn befallen wird, war Brot aus Weizenmehl nicht verunreinigt. Allerdings kamen die Vergiftungserscheinungen nicht selten zurück, sobald die geheilten Menschen wieder Roggenbrot aßen.“
Gift, Droge, Medikament
Gleichzeitig war das Mutterkornalkaloid aber auch immer als medizinischer Wirkstoff gefragt. Die Volksmedizin folgt hier dem Lehrsatz des Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. In niedrigen Dosierungen setzen es zum Beispiel Hebammen ein, um Wehen einzuleiten, und geben dem Mutterkorn damit seinen umgangssprachlichen Namen. Auch als blutstillendes Mittel und für Abtreibungen verwenden es die Menschen.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht der französische Pilzforscher Louis René Tulasne das parasitische Gewächs ausführlich. In den 1930er und 40er- Jahren will der Schweizer Chemiker Albert Hofmann aus Mutterkorn ein Mittel zur Kreislaufstimulation herstellen – und entdeckt dabei die bewusstseinsverändernde Droge LSD.
DLM |
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Das Deutsche Landwirtschaftsmuseum (DLM) zeigt auf 5.700 qm überdachter Ausstellungsfläche liebevoll restaurierte Landmaschinen, die Agrargeschichte geschrieben haben. Die Besucher erleben den Wandel der landwirtschaftlichen Produktion und erfahren die Auswirkungen der technischen Innovationen auf die Arbeitsbedingungen der Bauern. Die Exponate zeigen die Entwicklung vom einfachen ackerbaulichen Gerät bis hin zur modernsten Agrartechnik. |
Noch heute findet das Mutterkornalkaloid medizinische Anwendung, zum Beispiel in Migränemitteln.
Trotz der Verbreitung des Mutterkornpilzes war die Gewinnung der Mutterkörner jedoch lange Zeit sehr aufwendig: „Als man begann den Wirkstoff gezielt pharmazeutisch zu nutzen, gingen viele Apotheker selbst auf die Felder oder schickten Kinder aus der Gegend, um das reife Mutterkorn von Hand von den Ähren abzusammeln“, berichtet Frank Emmerich.
Seit Mitte der 1960er Jahre übernimmt die Impf- und Erntemaschine diese Arbeit. Für die Bauern ein unerwünschtes Nebenprodukt, beginnt die Pharmaindustrie Mutterkorn gezielt zu kultivieren und zu ernten.
Maschinelle Mutterkornernte für die Pharmazie
Mit dem Goldhamster entwickelt sie ein zwei Meter hohes, motorisiertes Fahrzeug, einen sogenannten Selbstfahrer. Zum Beimpfen sprühen Düsen am vorderen Ende eine Lösung mit den Sporen des Mutterkornpilzes auf die Roggenähren.
Wenn wenige Wochen später der Pilz erntereif ist, wird das Gerät für die Ernte umgebaut. Harte Plastik- oder Schweineborsten am hinteren Ende bürsten das Mutterkorn von den Ähren ab. Ein Kasten unten am Gerät fängt die Ernte auf. Ähnlich wie sein tierischer Namensgeber sammelt der Goldhamster so die verwertbaren Teile des Getreides.
Von zwei Personen bedient, benötigt der Goldhamster für das Beimpfen und Abernten von einem Hektar Fläche drei Stunden. Bis zu 600 kg Mutterkorn pro Hektar ernten Pharmaunternehmen auf diese Weise auf speziell ausgewiesenen Feldern.
Einträgliche Praxis bis in die 80er Jahre
Dass dies einträglich war, dürfte der der Name des Gerätes – Goldhamster – belegen. Bis in die 1980er-Jahre hinein nutzen Pharmaunternehmen wie Böhringer Ingelheim Maschinen den Goldhamster zur Gewinnung des Mutterkorns.
Der Goldhamster gelangt 1986 nach erfolgreichem Einsatz als Exponat ins Deutsche Landwirtschaftsmuseum nach Hohenheim. Inzwischen wurde die Herstellung des Mutterkornwirkstoffs aus dem natürlichen Rohstoff eingestellt – die Pharmaunternehmen gewinnen das Mutterkornalkaloid für ihre Medikamente heute im Labor. Geblieben ist ein interessantes Kapitel der Mutterkorngeschichte, das im Deutschen Landwirtschaftsmuseum nacherzählt wird.
Text: Barsch / Klebs