NS-Vergangenheit:
Im Jubiläumsjahr stellt sich die Universität Hohenheim erstmals auch einem der dunkelsten Kapitel ihrer 200jährigen Geschichte  [25.10.18]

Montag, 12. November 2018, 16:15 Uhr: Gedenkveranstaltung zu Ehren verschleppter und zu Tode gekommener Zwangsarbeiter auf dem Universitätsfriedhof / 17:00 Uhr: Ergebnisse des Forschungsprojektes „Hohenheim und der Nationalsozialismus“ auf Schloss Hohenheim

„Ihre Namen sollen uns Mahnung sein“: so schließt der Text einer Skulptur, die am Montag, 12. November 2018, auf dem Campus-Friedhof der Universität Hohenheim in Stuttgart enthüllt werden wird. Gedacht werden soll über 240 Zwangsarbeitern in Hohenheim, von denen zwei im Jahr 1945 auf dem Campus begraben wurden. Gedacht werden soll auch allen anderen Menschen, die an und durch die damalige landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim zu Zeiten des Nationalsozialismus Unrecht erlitten. Denn deren Mitglieder hatten sich überdurchschnittlich schnell und bereitwillig in den Dienst des NS-Regimes gestellt, wie jüngste Forschungsergebnisse belegen. Über diese Forschung berichtet Dr. Anja Waller im Anschluss an die Gedenkveranstaltung um 17:00 Uhr im Schloss der Universität Hohenheim. Beide Veranstaltungen sind öffentlich, die Bevölkerung ist herzlich eingeladen. Aus Planungsgründen bitten die Veranstalter um Anmeldung unter www.uni-hohenheim.de/aufarbeitung-ns-zeit-Ergebnisse


Bislang war Gras gewachsen über den Gebeinen von Isabella Sikorska (1888 bis 1945) und Peter Ralintschenko (1894 bis 1945), die während der NS-Diktatur als Zwangsarbeiter nach Hohenheim verschleppt wurden.

Isabella Sikorska war wahrscheinlich während des Warschauer Aufstands von 1944 verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert worden. Bei ihrer Ankunft in Hohenheim muss sie sich in einem erschreckenden Gesundheitszustand befunden haben: Sie starb bereits wenige Tage später. Die Sterbeurkunde nennt als Todesursache „Herzmuskelschwäche, Pneumonie“.

Peter Ralintschenko kam ein Jahr nach seiner Ankunft in Hohenheim bei einem tödlichen Unfall ums Leben. Der Unfall ereignete sich im Februar 1945 im Tierzuchtinstitut. Informationen über die näheren Umstände seines Todes ließen sich in den Archiven nicht finden.

Sikorska und Ralintschenko stehen stellvertretend für mindestens 242 Zwangsarbeiter, die ab 1940 auf Versuchsfeldern, in Instituten oder als Hausmädchen ausgebeutet wurden. Die Gräber der beiden wurden nie gekennzeichnet.

Ab dem 12. November 2018 weist eine Gedenk-Stele gleich am Eingang des Friedhofs auf das Schicksal Sikorskas und Ralintschenkos hin. Die Gräber selbst werden zwei schlichte Würfel aus gleichem Material mit den Initialen der Toten kennzeichnen.


Umfangreiche Auswertung historischer Quellen

Entdeckt wurden die Gräber in alten Friedhofsunterlagen von Dr. Anja Waller, Historikerin und Leiterin des Projektes zur Aufarbeitung der NS-Zeit und ihrer Folgen an der Universität Hohenheim. Renommiert begleitet wurde ihre Arbeit durch Prof. Dr. Andreas Gestrich, dem ehemaligen Leiter des Deutschen Historischen Instituts in London als wissenschaftlichem Beirat.

Knapp drei Jahre lang grub sich die Historikerin durch Akten aus dem Universitätsbestand, durchforstete Quellen in den Archiven der Länder und des Bundes, sichtete Unterlagen des internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes zum Schicksal von Zwangsarbeitern und recherchierte in den Kirchenarchiven von Rottenburg und Stuttgart.

Die Besonderheit: In ihrer Analyse beschränkte sich Dr. Waller nicht auf die Zeit von der Machtergreifung der Nationalsozialisten bis zur Kapitulation am Ende des 2. Weltkrieges. „Der Universität Hohenheim war es wichtig, auch die Auswirkungen des Nationalsozialismus in den Jahrzehnten danach mit einzubeziehen“, erklärt die Historikerin.

Dabei ging es vor allem um die Frage, inwieweit es in Hohenheim nach Kriegsende einen Neuanfang gab – und inwieweit es belasteten Personen gelang, in Hohenheim Fuß zu fassen.


Forschungsprojekt soll Versäumnisse der Nachkriegsjahrzehnte nachholen

„Während andere Epochen in der Entwicklungsgeschichte Hohenheims über die Jahre ausführlich beleuchtet wurden, blieb die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Hohenheim bisher seltsam blass. Dieses Versäumnis galt es nachzuholen“, erklärt der Rektor der Universität Hohenheim, Prof. Dr. Stephan Dabbert.

Die Universität Hohenheim habe sich deshalb entschlossen, den Auftrag zur Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte an außenstehende Historiker zu vergeben und die Ergebnisse noch im Jubiläumsjahr 2018 zu publizieren. Denn: „Wer sich einer 200-jährigen Geschichte mit vielen Erfolgen rühmen will, darf auch die dunklen Kapitel darin nicht ausblenden“, kommentiert Prof. Dr. Dabbert.


Wissenschaft im Dienst von NS-Ideologie und -Verbrechen

Tatsächlich sei der Nationalsozialismus in Hohenheim auf einen besonders günstigen Nährboden gefallen, verrät Dr. Waller aus ihrem Bericht. „Die Gleichschaltung erfolgte in Hohenheim im Großen und Ganzen ohne Widerstand, mit Begeisterung und Engagement.“

In den Folgejahren hätte sich die Hochschule bereitwillig in den Dienst der NS-Ideologie gestellt: „Mit ihren Studien haben Wissenschaftler aus Hohenheim die Umsiedlung, Vertreibung und Deportation in Osteuropa nicht nur theoretisch vorbereitet. Während der Kriegsjahre beteiligten sich Dozenten auch direkt an Um- und Ansiedelung in besetzten Gebieten oder am systematischen Diebstahl wissenschaftlichen Materials.“

Umso auffälliger sei es, wie schnell die Hochschule die Vergangenheit noch im Jahr des Kriegsendes verdrängt habe. Bereits im Dezember 1945 sei der Lehrbetrieb in Hohenheim wiederaufgenommen worden. „Ein wirklicher Neuanfang ist damals ausgeblieben“, berichtet Dr. Waller.


Nachkriegs-Verdrängung: Ehemaliger SS-Funktionär wird 1963 zum Rektor

Dieses Verdrängen habe schließlich in der Personalie von Prof. Dr. Günther Franz gegipfelt. Als bekennender Nationalsozialist sei der Agrarwissenschaftler 1933 der NSDAP und SA beigetreten. Bei der SS habe er 1944 den Rang eines Obersturmführers innegehabt. In der „Gegnerforschung“ des Reichssicherheitshauptamtes sei er als wissenschaftlicher Koordinator tätig gewesen.

Nach Kriegsende bemühte sich der bekennende Nationalsozialist um den Widereinstieg in die Wissenschaft. „Dies gelang ihm spät, dafür jedoch umso erfolgreicher mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Agrargeschichte 1957 in Hohenheim“, so Dr. Waller. So habe er die Agrargeschichtsforschung bis Anfang der 70er Jahre geprägt.

Von 1963 bis 1967 war der ehemalige SS-Offizier sogar als Rektor tätig. 1968 verfasste er die Festschrift zum 150. Jubiläum der Universität.


Ausführliche Präsentation der Forschungsergebnisse am 12. November um 17:00 Uhr

Die ausführlichen Details zu ihren Forschungsergebnissen präsentiert Dr. Waller im Anschluss an die Gedenkveranstaltung um 17:00 Uhr in der Aula von Schloss Hohenheim und in ihrer Publikation „Erschreckend einwandfrei – Die NS-Zeit und ihre Folgen an der Universität Hohenheim“.

Die Veranstaltung beginnt mit einem Grußwort des Rektors. Die Einleitung hält Prof. Dr. Andreas Gestrich, Leiter des Deutschen historischen Instituts in London und wissenschaftlicher Beirat des Projektes.


Erinnerungspunkte sollen Geschichte im Alltag kenntlich machen

„Mit diesem Forschungsprojekt und dieser Publikation will die Universität Hohenheim das unter nationalsozialistischer Herrschaft geschehene Leid und Unrecht benennen und anerkennen“, fasst Rektor Prof. Dr. Dabbert zusammen. „Die Opfer des Nationalsozialismus in Hohenheim dürfen nicht in Vergessenheit geraten, das an ihnen begangene Unrecht soll sichtbar gemacht und die Verantwortlichen beim Namen genannt werden.“

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes will die Universität Hohenheim deshalb auch durch Erinnerungspunkte im Alltag kenntlich machen. Neben der Gedenk-Stele auf dem Universitätsfriedhof gehört dazu auch eine Tafel mit Hinweisen auf besonders belastete Rektoren. Angebracht ist sie im Tannenzapfenzimmer von Schloss Hohenheim, das eine vollständige Galerie aller Direktoren, Rektoren und Präsidenten von der Gründung 1818 bis heute zeigt.


HINTERGRUND Publikation

„Erschreckend einwandfrei
– Die NS-Zeit und ihre Folgen an der Universität Hohenheim“.
Als einzig verbliebener landwirtschaftlichen Hochschule in Deutschland kam Hohenheim im Nationalsozialismus eine herausragende Rolle zu: Hohenheim sollte zur „nationalsozialistischen Musteranstalt“ werden. Die Publikation „Erschreckend einwandfrei – Die NS-Zeit und ihre Folgen an der Universität Hohenheim“ ist Ergebnis der knapp dreijähren Forschungsarbeit von Dr. Anja Waller über die Jahre vor der Gleichschaltung, die Zeit des Nationalsozialismus und der fehlenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit während der Nachkriegs-Jahrzehnte in Hohenheim. Erstmals wird damit ein umfassendes Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit der Universität Hohenheim und ihrer Folgen vorgelegt. Die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse wurden mit Unterstützung der Palm-Stiftung ermöglicht.
Dr. Anja Waller: „Erschreckend einwandfrei – Die NS-Zeit und ihre Folgen an der Universität Hohenheim“, erschienen 2018 im Ulmer Verlag, 328 Seiten, Preis 39,95 €, ISBN-Nr. 978-3-8186-0538-4, erhältlich im Buchhandel.

Rezensionsexemplare bitte anfordern unter presse@uni-hohenheim

Text: Klebs

Kontakt für Medien:

Dr. Anja Waller, Universität Hohenheim, Projekt zur Aufarbeitung der NS-Zeit und ihrer Folgen an der Universität Hohenheim
T 0711 459 22058, E anja.waller@uni-hohenheim.de

Prof. Dr. Stephan Dabbert, Rektor der Universität Hohenheim
T 0711 459 22000, E presse@uni-hohenheim.de


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