Neue Profs: Melina Claußnitzer

Sie schlägt die Brücke zwischen Medizin und Künstlicher Intelligenz  [22.05.19]

Prof. Dr. Melina Claußnitzer | Foto: Universität Hohenheim / Elsner

Eigentlich ist sie Ernährungswissenschaftlerin. Doch ihre Forschung geht weit darüber hinaus: Prof. Dr. Melina Claußnitzer nutzt computerbasierte Modelle, um die genetischen Ursachen von Stoffwechsel-Erkrankungen zu ergründen. Sie leitet jetzt das Fachgebiet Ernährungswissenschaft in Hohenheim.


Parallel dazu hat sie auch noch ein zweites Standbein an der Harvard Medical School und dem Broad Institute of MIT and Harvard in Boston – ein Spagat, von dem auch ihre Hohenheimer Schützlinge profitieren.

Frau Claußnitzer, eigentlich sind Sie ja schon seit Oktober 2017 in Hohenheim…

… offiziell, ja, aber da kam erst mal unser zweites Kind auf die Welt, so dass ich erst im April 2018 hier angefangen habe. Auch das ist schon eine Weile her, doch bei dem Termin war es wie verhext: Jedes Mal kam bei einer von uns beiden etwas dazwischen und wir mussten ihn verschieben.

… doch nun hat es endlich geklappt, das ist schön. Sie sind die Nachfolgerin von Prof. Biesalski. Was ändert sich bei der Ausrichtung des Fachgebietes?

Zunächst mal hat sich der Name geändert – von „Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft“ auf „Ernährungswissenschaft“. Bei der Ausrichtung ändert sich recht viel. Herr Biesalski ist eine Koryphäe auf dem Gebiet Nährstoffe und Vitamine. Ich habe zwar auch Ernährungswissenschaften studiert, aber nun einen neuen Forschungsschwerpunkt, den es bisher in Deutschland noch wenig gibt.

Freies Assoziieren



Ich forsche zu metabolischen Erkrankungen und setze dabei Methoden aus dem Bereich Computer Science ein: Machine Learning, Künstliche Intelligenz und Big Data. Die Ernährungswissenschaften haben sich stark verändert, die Ansätze sind personalisierter, one-size-fits-all gilt heute nicht mehr, da es einfach nicht für alle Menschen passt.

Sie haben hier in Hohenheim Ernährungswissenschaften studiert?

Ja, meine Diplomarbeit, betreut von Herrn Graeve und Frau Daniel von der Technische Universität München, hatte bereits einen stark mathematischen Hintergrund, da ging es bereits um das Modellieren von Transportprozessen, die bei metabolische Erkrankungen relevant sind.

Wo waren Sie danach?


Danach ging ich zur Promotion an die TU München, an den Lehrstuhl für Ernährungsmedizin von Prof. Hans Hauner. Eng kooperiert habe ich dort mit dem Helmholtz-Zentrum im Rahmen des ‚Virtual Diabetes Institute‘. Es ging darum, genetische Signale zu entschlüsseln, die Voraussetzung für Typ-2-Diabetes sind.

Seitdem das menschliche Genom entschlüsselt ist, kann man viele Erkrankungen besser verstehen, doch die Thematik ist sehr komplex. Wir gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern haben festgestellt, dass die Signale nicht in den Genen liegen, sondern auf regulatorischen Elementen. Sie galten zuvor als sogenannte junk DNA, also Genabschnitte ohne jede Funktion. Doch circa 93 Prozent aller genetischen Signale resultieren daraus.

Sie sprachen eben auch vom Bereich Computer Science – wo kam das ins Spiel?

Während meiner Doktorarbeit zum Thema ‚Funktionelle Charakterisierung von Typ 2 Diabetes assoziierten genetischen Varianten‘ wurde schnell klar, dass die großen Datenmengen nur mit der Entwicklung neuer computer-gestützter Methoden interpretiert werden können. Die Idee war, bioinformatische Methoden zu verwenden, um kausale genetische Varianten in der junk DNA zu identifizieren. Als ich diese bioinformatische Methode auf der Gordon Research Konferenz in USA vorstellte, wurde mir eine Postdoc Stelle an der Harvard Medical School in Boston angeboten. Bei der Arbeit ging es um altersrelevante Erkrankungen, u.a. Typ-2-Diabetes, Übergewicht und Alzheimer.

Bei einer Computer Science-Konferenz kam ich mit Eric Lander ins Gespräch. Er war an dem weltweiten Humangenomprojekt beteiligt und hat maßgeblich dazu beigetragen, das menschliche Genom zu entschlüsseln. Er meinte, unsere Methoden und Ansätze seien wichtig, und seitdem habe ich meinen Postdoc aufgeteilt: Halb war ich weiterhin im Institute for Aging Research der Harvard Medical School, halb habe ich mich am Computer Science and Artificial Intelligence Lab des MIT mit Computer Science beschäftigt. Das war manchmal stressig, beidem gerecht zu werden, aber es war auch der wichtigste Schritt in meinem wissenschaftlichen Leben. Dies eröffnete mir später die Möglichkeit meine Arbeitsgruppe an das weltberühmte Biotech Institut, das Broad Institute of MIT and Harvard, anzusiedeln, wo ich seither ‚Institute Member‘ bin.

Inwiefern war der Schritt so wichtig?

Diese beiden Seiten sind selten in einer Person vereint, sie verstehen sich sogar oft gar nicht. Doch das eröffnet völlig neue Möglichkeiten: Unsere Modelle, mit denen wir arbeiten, sind agnostisch. Wir gehen also von keiner Hypothese aus. Auf diese Weise landet man oft an einem Punkt, den man nicht erwartet hat.

Wir haben zum Beispiel mit mathematischen Modellen untersucht, welche genetischen Signale für Übergewicht relevant sind. Bisher ging man immer davon aus, dass der Knackpunkt im Gehirn liegt, dass die Leute kein Sättigungsgefühl haben. Unsere Arbeit hat jedoch gezeigt, dass es nichts mit dem Gehirn zu tun hat, sondern am Fettgewebe liegt.

Fachgebiet Ernährungswissenschaft

Seit 10.10.2017 leitet Prof. Dr. Melina Claußnitzer das Fachgebiet. Es hieß davor „Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft“ und stand unter der Leitung von Prof. Dr. Hans K. Biesalski, der in den Ruhestand gegangen ist.


Der Mensch erleidet bei der Geburt einen Kälteschock und muss schlagartig Wärme produzieren. Dafür haben Neugeborene sogenanntes braunes Fettgewebe, das schnell Wärme freisetzt.

Es gibt verschiedene Fettzellen?

Genau. Weiße Fettzellen sind für die Speicherung von Energie in Form von Fett zuständig. Und wir sind anhand von genetischen Markierungen auf eine neue, bisher unbekannte Art von Fettzellen gestoßen: die beigen Fettzellen, die es im Gegensatz zu den braunen auch bei Erwachsenen in großen Mengen gibt. Die weißen Fettzellen sind Vorläufer und können sich zu beigen Fettzellen entwickeln. Die beigen Fettzellen ähneln in mancher Hinsicht den braunen, auch sie können relativ rasch Energie verbrennen. Das wird u.a. durch ein bestimmtes Hormon gesteuert, und wir hoffen, dass dies ein Ansatz für die Behandlung von Adipositas sein kann.

Das war ja in der Tat ein unerwartetes Ergebnis…

… ja, und es zeigt, wie wichtig ein agnostischer Ansatz ist. Wir haben uns zum „Common Disease Consortium“ (CDC) zusammengeschlossen und wollen nun weltweit ein großes Projekt durchführen. In 5 Jahren möchten wir die genetische Basis der 5 wichtigsten metabolischen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Typ 2 Diabetes aufklären und Behandlungsmöglichkeiten dagegen entwickeln.

Und diese Forschung etablieren Sie jetzt in Hohenheim?


Ja, wobei das nicht ganz einfach ist. Hier in Deutschland ist es schwierig, Computer Scientists und Experimentalisten zu rekrutieren, die sich mit Big Data auskennen. Qualifikationen im Bereich Künstliche Intelligenz in der Medizin sind nur selten anzutreffen. Es geht langsam, aber es klappt. Daher, und auch weil der Umbau der Laborräume hier in Hohenheim noch nicht abgeschlossen ist, bin ich froh, dass ich im Augenblick noch einen Fuß in Harvard und auch dort noch ein Labor habe.

Sie leiten zwei Labore auf zwei Kontinenten parallel?

Ja, die räumliche Entfernung ist ja heute gar nicht mehr so wesentlich. Ganz hilfreich bei der Verschmelzung der Labore ist übrigens die Team Management-App Slack, die kann ich nur empfehlen. Sie funktioniert zwischen Boston und hier sehr gut. Und dann sind die zwei Locations ja durchaus auch ein Anreiz.

Bei der Gelegenheit gleich noch ein Aspekt, der mir sehr wichtig ist: Wir sind sehr inklusiv, offen für alle Ethnien, sexuelle Orientierungen etc. Mein Labor war immer in jeder Hinsicht bunt gemischt – und das war schon immer eine enorme Bereicherung!

Frau Claußnitzer, stellen Sie sich einmal vor, Sie könnten über unbegrenzte Mittel und Möglichkeiten verfügen – welches Projekt würden Sie starten?

Ich würde das in Angriff genommene Projekt mit dem Common Disease Consortium einfach beschleunigen. Wir untersuchen darin 60.000 genetische Regionen auf kausale Zusammenhänge mit den Krankheiten, 33 Projekte haben wir initiiert. Die Forschung ist sehr teuer, das könnte man mit den entsprechenden Mitteln natürlich beschleunigen. Es wäre gut, wenn wir möglichst schnell alle genetischen Signale für bestimmte Krankheiten entschlüsseln und für die Prävention und Therapie von Erkrankungen nutzen können, die bedrohlich für uns alle sind. Hierbei sehe ich die Erforschung von genetischen Signalen aller ethnischen Herkünfte als essentiell an. Zum momentanen Zeitpunkt werden genomische Studien fast ausschließlich in Europäern durchgeführt. Das muss sich ändern.

Bei unserer Variants-to-function (V2F) Initiative wollen wir herausfinden, welche genetische Varianten mit Krankheiten assoziiert sind und welche Therapien sich daraus ableiten lassen. Diese Initiative möchte ich hier in Hohenheim integrieren, wobei schon Diskussionen und erste Projekte mit Kollegen hier vor Ort stattfinden.

Kommen wir zur Lehre. Was kann man bei Ihnen lernen?


In der Lehre hat sich erst einmal nicht so viel geändert, wir lehren weiterhin wie Herr Biesalski die Grundlagen in den Ernährungswissenschaften sowie ernährungsabhängige Erkrankungen. Es geht nun aber mehr in Richtung personalisierte Medizin, und diesen Ansatz werden wir auch noch weiter ausbauen. Das Interesse bei den Studierenden ist auf jeden Fall da.

Können sich Studierende an Ihren Forschungsprojekten beteiligen?

Ja, ich habe schon ziemlich viele Anfragen für Bachelor- und Masterarbeiten. Die Master involvieren wir dann nach Möglichkeit in laufende Forschungsprojekte. Wir publizieren relativ wenig, aber dafür in sehr renommierten Journals – und da sind die Master-Studierenden dann dabei.

Im Sommer hatten wir einen Workshop mit norwegischen Kollegen, dem Broad Institute und Stanford University. Da ging es 5 Tage lang um die Kern-Projekte, und dazu waren einige Studierende auch eingeladen. Da haben einige Feuer gefangen!

Humboldt reloaded habe ich übrigens auch auf dem Schirm, das muss ich mir in nächster Zeit mal genauer ansehen.

Was ist das Merkmal von guter Lehre?


Enthusiasmus entfachen für Fortschritt und neue Entwicklungen. Ich bin selbst begeistert von der Forschung. Diese neuen Aspekte muss man in die Lehre einbringen, sie sollten die Folien dominieren und nicht das Lehrbuch-Wissen. Dabei ist auch Primär-Literatur wichtig.

Lehre muss lebendig sein. Die Art der Prüfungen im Bachelor und Master sind nicht gerade förderlich, wenn es darum geht, seine Berufung zu finden. Aber ich hoffe, dass bei einer Handvoll Studierender Begeisterung bleibt, und dass wir die anderen zumindest mitnehmen können und gute Grundlagen für die berufliche Tätigkeit schaffen.

Stichwort Beruf: Wo können denn Ihre Studierenden später arbeiten – von der Forschung mal abgesehen?

Da gibt es ein breites Einsatzgebiet. In der Industrie zum Beispiel, in Pharmakonzernen. Die Industrie zahlt recht gut, die schnappen uns oft die besten Leute weg…

Aber man kann etwa auch in den Wissenschaftsjournalismus gehen, oder ganz klassisch in die Ernährungsberatung. Das wollte ich ursprünglich machen, bevor mich das Forschungsfieber packte. Auch für die Praxis sind die persönlichen Faktoren, die wir jetzt neu auf dem Schirm haben, sehr interessant.

Wie hat sich Hohenheim denn seit Ihrer Studienzeit verändert?

Das Studium ist jetzt strikter, mit mehr Zeitdruck. Daher trauere ich dem Diplom doch etwas nach. Das Niveau der Studierenden ist aber nach wie vor exzellent, die Leute sind sehr ambitioniert.

In Hohenheim an sich habe ich mich gleich wieder zuhause gefühlt, ich liebe es einfach. Ich habe viele Unis kennengelernt, aber der Hohenheimer Campus hat die schönste Ausstrahlung von allen, das gibt es sonst nirgendwo. Nur der Wittwer fehlt mir und das kleine Lebensmittelgeschäft, das es dort in der Ladenzeile gab – wobei die Denkbar auch nicht schlecht ist.

Das Handling bei der Berufung ist übrigens auch ganz toll, das Recruitment von jungen Profs – alles ist viel fortschrittlicher als damals. Es gibt auch einen Generationenwechsel, und die junge Generation hat wenig Allüren.

Wie verbringen Sie denn Ihre Freizeit, Frau Claussnitzer?

Ich habe zwei kleine Kinder, bin eine leidenschaftliche Mutter. Am liebsten nehme ich die ganze Familie mit auf Konferenzen – bis jetzt machen es die Kinder auch noch gut mit. Außerdem liebe ich als Allgäuerin natürlich die Berge und wandere gern. Früher standen noch Paragliding und Klettern auf dem Programm, aber das geht mit den Kindern ja nicht mehr. Ich liebe die Natur und brauche sie auch, um innovativ zu sein – viele Ideen und Methoden haben ich dort gedanklich entwickelt.

Herzlichen Dank für das spannende Gespräch!

Interview: Dorothea Elsner

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