Forschendes Lernen heute

Lehrcoach Dr. Cornelia Frank im Interview  [14.06.19]

Zugführer, Hebamme, Reiseleiter oder Gärtner? Anhand einer Sammlung von Playmobil-Figuren erklärt Lehrcoach Dr. Cornelia Frank verschiedene Typen von Lehrpersönlichkeiten. Foto: Uni Hohenheim | Leonhardmair

Seit fast 50 Jahren wird in Deutschland Forschendes Lernen praktiziert. Die Zielsetzung ist gleichgeblieben – doch die Bedingungen haben sich radikal verändert. In den 70er Jahren schätzen Studierenden es, Profs vom heiligen Rednerpult runterzuholen. Heute kann Forschendes Lernen Freiräume in eng getakteten Bologna-Studienplänen verschaffen. Gleichzeitig rüstet es Studierende für eine komplexe Welt, die sich im Zuge der digitalen Transformation immer schneller dreht und von zunehmenden Unsicherheiten geprägt ist. Voraussetzung für das Gelingen sind angemessene Ressourcen. Anlässlich der Veröffentlichung des „Hohenheimer Memorandums zum Forschenden Lernen“ vergangene Woche hat sich der Online-Kurier mit Co-Autorin Dr. Cornelia Frank unterhalten, die im Projekt Humboldt reloaded als Lehrcoach tätig ist.

 

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Hallo Frau Frank, was genau war der Anlass für das Hohenheimer Memorandum? Das Thema „Forschendes Lernen“ an sich ist ja nicht neu, oder?

Was den Zeitpunkt betrifft, sind gewissermaßen drei Anlässe zusammengefallen: Erstens die internationale Tagung focusURE, die Bilanz gezogen hat zu den Do’s and Dont’s beim Forschenden Lernen.

Zweitens das fast fünfzigjährige Jubiläum der Geburtsstunde von Forschendem Lernen in Deutschland, das 1970 noch unter anderen Rahmenbedingungen begonnen hat. Es stellt sich also die Frage, inwieweit das Forschende Lernen von heute dem Forschenden Lernen von früher entspricht.

Drittens das nahende Ende des Qualitätspaktes Lehre, aus dem bundesweit einige Projekte zum Forschenden Lernen finanziert werden, wie auch das Humboldt reloaded-Projekt an der Universität Hohenheim. Da noch nicht konkret feststeht, wie es nach 2020 weitergeht, wollten wir mit dem Memorandum auch ein Signal an die Politik senden: Forschendes Lernen lohnt sich, der Aufwand ist gerechtfertigt, es braucht aber auch Ressourcen, um die Qualität so halten zu können.

Worin besteht denn der Gewinn für die Studierenden?

Beim Forschenden Lernen geht es darum, eigene Ideen ernst zu nehmen und sich einem Forschungsgegenstand staunend zu nähern. Man nimmt eine fragende Grundhaltung ein, erstellt ggf. Hypothesen und entwickelt eine Antwortstrategie. Die Studierenden arbeiten häufig im Team und erheben selbständig Daten.

Dabei stoßen sie, zumindest manchmal, auf Hindernisse. Diese zu überwinden, weiter zu machen, einen langen Atem zu haben bzw. zu entwickeln, das stärkt ungemein. Vielleicht fährt man den Karren auch erstmal an die Wand, steht dann wieder auf und ist am Schluss einen entscheidenden Schritt weiter. Und ganz nebenbei gewinnt man auch viele Erkenntnisse über sich selbst.

Die Kompetenzen, die Studierende während dieses Prozesses einüben, sind heute vielleicht sogar noch wichtiger als in den 1970er Jahren – und zwar nicht nur, wenn man eine Forschungskarriere anstrebt…

Wie meinen Sie das?


Wir leben in einer immer komplexer werdenden Welt, in der viele Systeme und Akteure auf verschiedenste Weise miteinander intergieren. Der Takt wird stetig beschleunigt durch digitale Transformation. Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten nehmen zu. Das stellt an junge Menschen ganz andere Anforderungen als in den 70er Jahren.

In der Businesswelt ist das ein großes Thema: Es gibt quasi kein Führungsseminar und kein Coaching-Buch in dem nicht vom Umgang mit diesen Veränderungen die Rede ist. Ein verbreitetes Schlagwort dazu lautet „Fit für die VUKA-Welt!“. VUKA steht dabei für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität.

Und ehrlich gesagt könnte ich mir kaum ein effektiveres VUKA-Fitnessprogramm vorstellen als das Forschende Lernen. Das ist ein Pfund, mit dem Universitäten wuchern können bei ihrer Profilbildung. Da sehe ich ein unausgeschöpftes Potential.

Als Stätten der Forschung sind Universitäten eine ganz spezielle Art von VUKA-Welt und können mit dem forschenden Lernen optimal darauf vorbereiten, sowohl auf die wissenschaftliche als auch die außeruniversitäre VUKA-Welt. Denn von stetigen Veränderungen, Unsicherheiten, Komplexität und Mehrdeutigkeiten sind beide geprägt – und werden es künftig noch stärker sein.

Was haben Lehrende davon – außer zusätzlichen Aufwand?


Forschendes Lernen ist mit Aufwand verbunden, aber je nachdem wie man das Projekt anlegt, können die Lehrenden auch bei ihrer eigenen Arbeit davon profitieren. Gute Lehre geht dann also im Idealfall nicht mehr nur auf Kosten von wertvoller Forschungszeit, sondern kommt auch der eigenen Forschung zugute.

Das gilt zum Beispiel am Anfang eines Forschungsprojekts: Gemeinsam mit Studierenden können z.B. Pilotstudien im kleinen Rahmen durchgeführt werden, um das Forschungsdesign zu überprüfen, einmal alle Stationen zu durchlaufen, ggf. nachjustieren zu können, bevor es dann an die großen Studien geht.

Für Promovierende und Postdocs ist das Forschende Lehren zugleich eine Art Führungscoaching: Denn wenn es wenig Regeln und viele Freiräume gibt, ist Führung natürlich viel stärker gefragt. Je nach Situation kann es z.B. angemessen sein, kollegial anzuleiten oder hierarchisch Vorgaben zu machen. Mal gilt es zu überzeugen, zu motivieren, mal zu delegieren oder Ergebnisse einzufordern.

Egal, ob man später einen Lehrstuhl übernimmt oder eine leitende Position in einem Unternehmen: Mit der Führungskompetenz steht und fällt die Zufriedenheit im Team und der Erfolg.

Für Professorinnen und Professoren kann das Forschende Lernen hingegen eine Möglichkeit sein, frühzeitig Talente zu entdecken, z.B. für Hiwi- oder Promotionsstellen.

Last but not least gibt es natürlich häufig auch eine ganz starke intrinsische Motivation. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern berichten mir, wie erfüllend sie es empfinden, ihre Studierende in die Forschungs- und Wissenschaftswelt hineinzusozialisieren und ihnen näher zu bringen, wie das Forscherherz tickt.

Playmobil

Lokführer oder Gärtner? In Workshops von Cornela Frank kommt eine Sammlung von Playmobil-Figuren häufig zum Einsatz.

Sie arbeiten im Humboldt reloaded-Team als Lehrcoach. Was sind Ihre Aufgaben?

Ich biete Workshops und Einzelcoachings für Projektbetreuerinnen und Projektbetreuer an, und Schlüsselkompetenztrainings für Studierende, die forschend lernen.

Bei den Coaching-Angeboten ist das übergeordnete Ziel, die individuellen Lehrpersönlichkeiten weiterzuentwickeln und zu stärken. Ich unterstütze Lehrende dabei, ihre Stärken und das, was sie in der Lehre auszeichnet, zu entdecken. Es geht auch um ihr Rollenverständnis und ihre individuelle Antwort auf die Frage: Wer bin ich, wenn ich lehre?

In meinen Workshops erkläre ich unterschiedliche Lehrtypen gerne anhand meiner kleinen Sammlung an Playmobil-Figuren.

Es gibt z.B. den Lokomotivführer, der ein klares Ziel vor Augen hat, den Fahrplan ganz genau kennt und transparent macht und seinen „Fahrgästen“ auf diese Weise Sicherheit vermittelt. Ob allerdings die „Fahrgäste“ die gemeinsame Fahrtzeit zum forschenden Lernen nutzen oder anderweitigen Beschäftigen nachgehen, das liegt allein in deren Verantwortung.

Ein anderes Beispiel ist der Gärtner, der weiß, dass alles davon abhängt, wo er am Anfang den Samen ausbringt und von welcher Güte dieser ist, und dass er anschließend auf die Natur vertrauen muss, weil auch seine Einflussmöglichkeiten auf das Wachstum begrenzt sind.

Kein Ansatz ist per se besser oder schlechter. Aber es ist hilfreich, sich über das eingene Selbstverständnis bewusst zu werden.

Jenseits dessen hängt das Ziel des konkreten Coaching-Prozesses natürlich immer vom jeweiligen Anliegen der Lehrenden ab. Das kann ganz unterschiedlich gelagert sein. Also zum Beispiel: Wie gehe ich mit emotional herausfordernden Situationen um? Muss ich als Lehrperson immer alles wissen? Wie kann ich Synergien zwischen Forschung und Lehre herstellen? etc.

Zu guter Letzt: Was hat die Universität als Ganzes vom Forschenden Lernen?


Der Wettbewerb unter den Universitäten um Studierende und die besten Köpfe für die Forschung nimmt zu. Hierbei kann das Forschende Lernen eine wichtige Rolle spielen, um die Attraktivität des universitären Lehrprofils zu steigern und Talente frühzeitig zu erkennen und zu fördern.

Letztendlich geht es aber sogar noch um mehr: Die „raison d’être“ der Universität, eine Stätte der Wissenschaft, der Forschung und der Bildung zu sein. In Zeiten der Massenuniversität nach der Bologna-Reform wird dieses Selbstverständnis herausgefordert und neu verhandelt.

Forschendes Lernen macht Universitäten einzigartig. Das Universitätsstudium unterscheidet sich dadurch signifikant von einer Ausbildung oder einem Fachhochschulstudium. Wenn es gelingt, dieses Alleinstellungsmerkmal im Spannungsfeld der gegenwärtigen Rahmenbedingungen zu pflegen und weiterzuentwickeln, wird das altehrwürdige Konzept der Universität auch in Zukunft Bestand haben und gesellschaftlichen Rückhalt erfahren.

Vielen Dank für das Gespräch!


Interview: Leonhardmair


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