Schätze der Sammlungen
Hungerbrot aus dem "Jahr ohne Sommer" [04.08.16]
Klein, hart und unappetitlich - Brot während einer der schlimmsten Hungersnöte in Europa. | Bildquelle: Universität Hohenheim.
Es ist nur etwa faustgroß und steinhart, vermischt mit Blättern, Wurzeln und Gras, und beim Kauen knirschen Sägespäne zwischen den Zähnen: Schuld an dieser ungewöhnlichen Notverpflegung in Württemberg ist ein Vulkanausbruch im fernen Indonesien, der die Bevölkerung Süddeutschlands vor 200 Jahren in die Hungersnot trieb. Wie die frischgebackene Königin Catharina damit umging, davon zeugen die Hungerbrote in einer aktuellen Ausstellung bis Oktober 2016 im Museum zur Geschichte Hohenheims.
Brotgenuss schmeckt anders. Doch der dürfte den Menschen ziemlich egal gewesen sein, die das kläglich improvisierte Brot gegessen haben. Hungerbrot nennen sie es, und in einer der schlimmsten Hungersnöte Europas bewahrt es die Ärmsten der Armen vor dem Verhungern.
Überliefert ist das Rezept auf einem etwa handtellergroßen Stück Papier, sorgfältig mit Feder und Tinte geschrieben. Der Leiter des Museums zur Geschichte Hohenheims Prof. Dr. Ulrich Fellmeth erklärt den Hintergrund der ungewöhnlichen Backware: „Nach gravierenden Ernteausfällen im Vorjahr mangelt es im Jahr 1817 im Südwesten Deutschlands an so gut wie allem – und das Grundnahrungsmittel Brot wird mit dem wenigen gestreckt, was noch zu finden ist.“
Museum zur Geschichte Hohenheims |
Die Hungerbrote sind Teil der Ausstellung „Die Königin in Zeiten voller Nacht: Catharina von Württemberg und das Jahr ohne Sommer 1816“ im Museum zur Geschichte Hohenheims. Im Spielhaus im Exotischen Garten ist die Ausstellung noch bis Oktober 2016 zu sehen: Samstags von 14:00-17:00 Uhr sowie Sonn- und Feiertags von 10:00-16:00 Uhr. |
Ein Vulkan auf den Philippinen stürzt die Welt ins Chaos
Der Schuldige? Ein Vulkan auf der anderen Seite der Welt. Auf der indonesischen Insel Sumbawa bricht im April 1815 der 4.300 Meter hohe Tambora aus und schleudert 140 Milliarden Tonnen Asche, Magma, Gesteinstrümmer und Gase in die Höhe. In einem Umkreis von 1.300 Kilometern sinkt die Asche wieder zu Boden. Im näheren Umkreis verdunkelt sich für zwei Tage der Himmel fast vollständig.
Und: feinste Aschepartikel und Schwefelgase steigen auf bis in die Stratosphäre. In Höhen von über 15 Kilometern gelangen sie in die globalen Windströme und bewirken für die nächsten Jahre eine Abkühlung der Troposphäre, also der untersten Schicht der Erdatmosphäre.
Die Folge: in vielen Teilen der Welt fällt der Sommer 1816 deutlich zu kalt aus. Am härtesten erwischt es hierbei Mittel- und Südwesteuropa, wo die Temperaturen mehr als drei Grad unter dem Mittel liegen – eine Abkühlung mit fatalen Folgen.
Ernteausfall im armen Württemberg
Ein kalter, nasser Sommer sorgt dafür, dass die Ernte im Jahr 1816 fast vollständig ausbleibt. Getreide und Kartoffeln verfaulen auf dem Feld – und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt für das wirtschaftlich schwache Land.
„Eigentlich sollte staatlich gespeichertes Vorratsgetreide solche Engpässe ausgleichen“, so Prof. Dr. Fellmeth: „Doch durch die bis 1815 andauernden Napoleonischen Kriege wurde diese Vorratshaltung vernachlässigt. Es gab keine Reserve.“
Für die Einfuhr von Lebensmitteln aus anderen, weniger betroffenen Gebieten fehlt Infrastruktur wie die Eisenbahn, die sich wenige Jahrzehnte später durchsetzen wird. Hinzu kommt, dass ab dem Ende des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung in Württemberg stark angewachsen ist, ohne dass gleichzeitig die Agrarproduktion mitgewachsen wäre.
Catharina Pawlowna |
„Ich habe noch niemals eine Frau gesehen, die in diesem Grade das Bedürfnis besaß Unruhe zu stiften“ – mit diesem zweifelhaften Kompliment beschrieb eine Zeitgenossin Catharina Pawlowna. Geboren 1788 als Tochter des russischen Zaren und seiner aus Württemberg stammenden Ehefrau, heiratet Catharina in zweiter Ehe den württembergischen Kronprinzen Wilhelm. Obwohl sie als mitunter widerspenstig und herrisch gilt, ist Catharina aufgrund ihres sozialen Engagements äußerst beliebt. Dieser Einsatz und ihr früher Tod mit 31 Jahren haben zu einem Mythos um ihre Person geführt, der sich auch in ihrer monumentalen Grabkapelle auf dem Württemberg wiederspiegelt. |
Getreidepreise explodieren, Arbeitslosigkeit steigt und verschlimmert die Lage
All diese Faktoren führen zu einer Ereigniskette, die Tausende Menschen ins Elend stürzt: Die Getreidepreise schießen in die Höhe. Im Juli 1816 kostet ein Laib Brot mehr, als ein Arbeiter oder Tagelöhner am Tag verdient.
Die Menschen müssen den Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben und haben weniger Geld für andere Güter, was die Handwerksbetriebe zu Entlassungen zwingt. Auch die Bauern brauchen weniger Arbeitskräfte – die Arbeitslosigkeit steigt an, auf dem Land wie in der Stadt, und verschlimmert die Lage zusätzlich.
Kreative Rezepte und Besinnung auf den Glauben
Das Rezept der Hungerbrote ist nicht das einzig überlieferte Stück Küchengeschichte aus dieser Zeit, weiß Prof. Dr. Fellmeth: „Damals entstand eine richtige Literaturgattung rund um die Frage, wie man mit Notzutaten für eine einigermaßen ausgewogene Ernährung sorgen kann“, erklärt der Historiker.
Lediglich besser gestellte Haushalte mit privaten Vorräten - zum Beispiel an Erbsen und Linsen - kommen einigermaßen aus. Für die Ärmsten der Armen steht jedoch alles auf dem Speiseplan, was irgendwo zu finden ist: Brennnesseln, Klee, Gras, Heu, getrocknetes Laub und Pflanzenwurzeln.
In ihrer Verzweiflung bauen die Menschen auf göttliche Hilfe, feiern Bittgottesdienste und rufen zu täglichen Erntebetstunden auf. Handwerker verkaufen sogenannte Schraubtaler, kleine Döschen mit Leidensszenen und religiösen Motiven, als Andenken.
Ein „Hungertaler“, eine Art Gedenkmünze, zeigt eine leidende Familie und die Inschrift „Groß ist die Not – O Herr erbarme Dich“. Der erste Erntewagen 1817 wird als göttliche Errettung bejubelt.
Hilfe zur Selbsthilfe und landwirtschaftliche Förderung
Das Königspaar Catharina und Wilhelm versucht die Not zu lindern und sozialen Unruhen vorzubeugen. Catharina gründet den „Zentralen Wohltätigkeitsverein“, der die Mittel für Armenspeisungen, Suppenküchen und andere Sofortmaßnahmen sammelt sowie eine Armensparkasse, die noch heute als Landesbank Baden-Württemberg besteht. Die tägliche Verwaltungsarbeit des Vereins mit seinen vielen lokalen Dependancen leistet die Königin selbst.
Vor allem aber setzt Catharina das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe um: Sie eröffnet Schulen, darunter das Königin-Katharina-Stift für Mädchen und die Landwirtschaftsschule für Waisen im Schloss Hohenheim, und ermöglicht es den Armen, in den Armenhäusern mit handwerklichen Tätigkeiten wie Spinnen und Weben Geld zu verdienen.
Obwohl sie erst im Oktober 1816 den Thron bestiegen hat, erlangt die Königin dadurch eine Popularität, die bis heute nachhallt. „Almosen geben war in adligen Kreisen damals schon üblich. Catharinas Einsatz ging aber weit darüber hinaus“, betont der Archivar Prof. Dr. Fellmeth: „Sie wollte den Armen langfristig eine Perspektive bieten – im Sinne einer modernen Sozialpolitik.“
Gründung der Universität Hohenheim
In den drei Jahren bis zu ihrem frühen Tod legt Catharina den Grundstein für eine Entwicklung, die ihr Ehemann mit verschiedenen Maßnahmen zur landwirtschaftlichen Förderung ebenfalls verfolgt.
Dazu zählt die Gründung landwirtschaftlicher Vereine, die sich vernetzen und Wissen weitergeben, die Modellsammlung zur Verbreitung technischer Neuerungen wie dem Goldenen Pflug – und die Gründung der Landwirtschaftlichen Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, aus der die Universität Hohenheim hervorgegangen ist.
Text: Barsch / Klebs