Ein Kaffee mit… Dr. Regina Wick, Uni-Archivarin

Hohenheim untersucht Kolonialvergangenheit  [19.01.22]

Dr. Regina Wick leitet das Universitätsarchiv. Bild: Wick

Wie sehr haben sich die Uni Hohenheim und ihre Mitglieder an Kolonialbestrebungen des Deutschen Reichs beteiligt? Wurden kolonialistische Ideologien in Hohenheim aktiv unterstützt und weitervermittelt? Diese Fragen untersuchte Historikerin Dr. Regina Wick in den vergangenen Monaten als neue Leiterin des Hohenheimer Universitätsarchivs. Der Online-Kurier hat sich mit ihr bei einer Tasse Kaffee über die Ergebnisse unterhalten.

 


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Frau Wick, die Recherche zur Hohenheimer Kolonialvergangenheit war eines ihrer ersten Projekte als neue Leiterin des Uni-Archivs. Was gab den Anstoß?


Wenn wir Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft überwinden wollen, müssen wir auch die Wurzeln solcher Denkmuster verstehen und Unrecht und Leid, das Menschen in Folge der aggressiven europäischen Expansionspolitik zugefügt wurde, als solches anerkennen.

Ich freue mich deshalb, dass neben einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegenwärtig auch eine breitere gesellschaftliche Debatte über die deutsche Kolonialgeschichte ins Rollen kommt. Das ist auf jeden Fall notwendig.

Beispielsweise hat der Stuttgarter Gemeinderat eine Vorstudie zur Kolonialvergangenheit der Stadt in Auftrag gegeben, und eine ganze Reihe von Universitäten hat in der letzten Zeit damit begonnen, ihre eigene Geschichte unter diesem Gesichtspunkt neu zu durchleuchten. Unser Rektor hat deshalb angeregt, dass auch wir an der Uni Hohenheim mit dieser Auseinandersetzung beginnen und uns einen ersten Überblick über die Quellenlage verschaffen.

Deutsche Kolonien

 

Bild: Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 | Joe Mabel

Die deutschen Kolonien umfassten Gebiete der heutigen Staaten Volksrepublik China, Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Papua-Neuguinea, und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien.

In den Kolonien kam es immer wieder zu Aufständen, die von den Kolonialherren brutal niedergeschlagen wurden. Seit 2021 erkennt die Bundesregierung den von Deutschen begangenen Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia an. Mehr…

Um welchen Zeitraum geht es dabei eigentlich genau? Und warum gibt es eine breitere gesellschaftliche Debatte erst jetzt?

Erworben wurden die meisten Kolonien des Deutschen Reiches gegen Ende der 1880er Jahre und mussten spätestens mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages 1920 wieder abgetreten werden.

Folgt man der gängigen terminologischen Unterscheidung von nationalsozialistischer Expansionspolitik im europäischen Osten und deutscher Kolonialherrschaft umfasste Letztere also tatsächlich „nur“ knapp vier Jahrzehnte. Im europäischen Vergleich ist das relativ kurz. Die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte wurde bislang außerdem sehr stark von anderen Themen überlagert, insbesondere der Aufarbeitung der NS-Zeit.

Es handelt sich jedoch um vier Jahrzehnte, deren Auswirkungen auf die betroffenen Gebiete heute noch deutlich spürbar sind und deren Einfluss auch in unserer heutigen Gesellschaft weiterhin sichtbar ist.

Die historische Verantwortung Deutschlands wird aus diesem Grund noch immer kontrovers diskutiert. So erkannte die Bundesregierung letztes Jahr nach intensiven Gesprächen mit der namibischen Regierung den deutschen Völkermord an den Herero und Nama an und erklärte sich bereit, 1,1 Mrd. Euro in ein Programm zur Wiederaufbauhilfe und zur Entwicklung einzuzahlen.

Gab es vorab denn konkrete Anhaltspunkte, dass die Uni Hohenheim oder einzelne Mitglieder, an kolonialistischen Aktivitäten beteiligt waren?

Zum Zeitpunkt als ich mit den Recherchen begann, lagen hierzu keine konkreten Hinweise vor. Es gab aber bisher auch schlicht und ergreifend keine Untersuchungen dazu.

In den letzten Jahren hat sich die Uni Hohenheim sehr intensiv mit der Aufarbeitung der NS-Zeit beschäftigt. Dabei wurde deutlich, dass die Professorenschaft der damaligen Zeit in hohem Maß national-konservativ eingestellt war und sich unter dem Nazi-Regime zum Teil rege im Sinne der Machthabenden engagierte. Es hätte mich also insofern nicht verwundert, wenn auch schon die deutschen Kolonialbestrebungen, die ja als nationales Prestige-Projekt ersten Ranges angesehen wurden, in Hohenheim Unterstützung gefunden hätten.

Außerdem haben wir in Hohenheim an der Fakultät Agrarwissenschaften einen ausgewiesenen Tropenschwerpunkt mit 10 Professuren. Dieser wurden zwar erst in den 1970ern etabliert. Dennoch ist es theoretisch nicht ausgeschlossen, dass ein loser Zusammenhang mit ehemaligen kolonialistischen Aktivitäten besteht – und sei es in Form einer kritischen Auseinandersetzung oder aus dem Motiv der Wiedergutmachung heraus.

Hohenheim und der Nationalsozialismus

Was haben Ihre Recherchen ergeben?

Tatsächlich konnte ich im Universitätsarchiv deutlich weniger Quellen mit direktem Bezug zur kolonialistischen Aktivitäten ausfindig machen, als ich ursprünglich erwartet hatte.

Im Fokus dieser Quellen stehen vor allem drei Themen:

Hohenheim war Mitglied in der Deutschen Kolonialgesellschaft, die 1887 mit dem Ziel gegründet worden war, den – ich zitiere – „kolonialen Gedanken“ in der deutschen Gesellschaft zu verankern. Es gab außerdem Planungen für ein Kolonialdenkmal bzw. die Pflanzung eines Gedenkbaums, wobei unklar bleibt, was letztendlich daraus wurde. Und es liefen Vorbereitungen zur Gründung einer sogenannten „deutschen Ansiedlerschule“, die junge Deutsche auf den Dienst in den Kolonien vorbereiten und bei der Bewahrung des „Deutschtum“ unterstützen sollte. Allerdings wurden diese Pläne nicht realisiert.

Die kolonialistische Ideologie wurde in Hohenheim in der Sache also durchaus akzeptiert und befürwortet...

Ja, allerdings ergibt sich aus den Quellen nicht das Bild, dass sich Hohenheimer Entscheidungsträger besonders aktiv hervorgetan und dem Thema außerordentliches Interesse entgegengebracht hätten. Die Initiative für das Kolonialdenkmal und die Ansiedlerschule kamen jeweils von außen und die Projekte wurden in Hohenheim offenbar eher leidenschaftslos vorangetrieben, wenn überhaupt.

Auch die Mitgliedschaft in der Deutschen Kolonialgesellschaft scheint nach allem, was uns an Quellen vorliegt, eher eine formale Angelegenheit gewesen zu sein. Sehr viele Hochschulen waren zur damaligen Zeit dort Mitglied. Hohenheimer Akteure brachten aber offenbar keine eigenen Initiativen ein.

In der NS-Zeit scheint das Interesse am Thema weiterhin eher gering. Dem Aufruf zum Beitritt in den von den Nationalsozialisten gegründeten Deutschen Kolonialbund, der sich dem so genannten „Kampf zur Rückgabe unserer Schutzgebiete“ widmete, folgten aus Hohenheim, soweit wir wissen, nur zwei Professoren.

Ich muss allerdings betonen, dass es sich bei meinen Recherchen um einen ersten Überblick handelt und nicht ausgeschlossen ist, dass sich andernorts noch einschlägiges Quellenmaterial befindet. Ein Ansatzpunkt für weitere Recherchen könnte etwa die archivische Überlieferung der Deutschen Kolonialgesellschaft im Bundesarchiv in Berlin sein.

Was hatte es denn mit den Plänen für die sogenannte „deutsche Ansiedlerschule“ genauer auf sich?

Die Ansiedlerschule hätte im Bereich des Exotischen Gartens gebaut werden sollen. Vorbild war die 1898 in Witzenhausen gegründete Deutsche Kolonialschule Wilhelmshof, deren Ziel es war, geeignete Fachkräfte für den Dienst in den Kolonien auszubilden.

Die Bestrebungen dafür gingen vor allem auf den 1908 in Stuttgart gegründeten „Verein zur Vorbildung Deutscher Ansiedler“ (VVDA) zurück und wurden unter anderem von Adolf Foehr unterstützt, der einige Jahre zuvor Schüler an der Akademie Hohenheim gewesen war.

Das Projekt wurde nicht umgesetzt, weil nicht ausreichend Spenden eingeworben werden konnten und sich letztlich auch Adolf Foehr als einer der Haupttreiber 1909 von dem Vorhaben zurückzog.

Die bereits gesammelten Mittel wurden nach Aufgabe des Vorhabens der Hochschule zur Verwaltung übergeben. Sie sollten verwendet werden, um „reichsdeutsche Ansiedlerbewerber“ beim Besuch der Hochschule oder „junge deutsche Landwirte“ beim Erlernen von Fremdsprachen zu unterstützen. In den ersten drei Jahren fanden sich aber auf Ausschreibungen in verschiedenen Zeitungen keine Bewerber. Mit zunehmender Inflation wurde 1923 angeregt, die Beiträge möglichst zügig anderweitig aufzubrauchen.

Und was wurde aus dem geplanten Kolonialdenkmal?

1924 initiierte die Deutsche Kolonialgesellschaft an vielen Orten die Pflanzung von Gedenkbäumen. Sie sollten nach der erzwungenen Abgabe der Kolonialgebiete ein „sichtbares Zeichen“ dafür darstellen, dass sich Deutschland nicht auf Dauer mit den Abmachungen von Versailles einverstanden erklären wolle und der koloniale Gedanke im deutschen Volk weiterlebe.

Auch in Hohenheim sollte ein solcher Gedenkbaum gepflanzt werden. Doch es kam anders. Zwar verweigerte man sich dem Ansinnen nicht grundsätzlich, zeigte aber andererseits auch wenig Engagement. In einem Brief vom April 1924 heißt es recht lapidar: „Von Seiten der Gutswirtschaft ist gegen einen Erinnerungsbaum […] nichts einzuwenden.“

Als sich Mitarbeiter der Deutschen Kolonialgesellschaft dann im September 1925 erkundigen, ob der Baum gut gedeihe, antwortet der amtierende Rektor: „Einen Auftrag zum Pflanzen eines Kolonialbaumes zur Erinnerung an Bismarck ist hierher nicht erteilt worden, weshalb auch kein Baum gepflanzt wurde. Gegenüber dem grossen Nussbaum beim Eingang ins Versuchsfeld bei der Turmallee steht jedoch ein junger, sehr schöner Nussbaum, der für diesen Zweck verwendet werden könnte.“

Begeisterung klingt anders und es bleibt auch offen, ob die geplante Einweihungsfeier jemals umgesetzt wurde.

Das Hohenheimer Bismarck-Denkmal

Otto von Bismarck war preußischer Ministerpräsident, Mitbegründer und Reichskanzler des Deutschen Reichs und gilt als Erfinder des deutschen Sozialversicherungssystems. Eines war er jedoch nicht: Ein Held der Schwaben. 1866 schießt ein Attentäter auf offener Straße auf den Politiker und wird dafür in Süddeutschland als Freiheitskämpfer gefeiert: Der ehemalige Hohenheimer Student Ferdinand Cohen-Blind. 150 Jahre später steht im Schlosspark dennoch ein Denkmal für den einst so heftig bekämpften Preußen. Mehr...

Ein Bismarck-Denkmal gibt es allerdings auf dem Hohenheimer Campus.

Richtig. Es stammt aus dem Jahr 1900 und wurde von der Studentenschaft der Landwirtschaftlichen Hochschule anlässlich des 100. Geburtstages von Otto von Bismarck gestiftet. Dies geschah offenbar jedoch vor allem, um Bismarcks Rolle als Staatsmann und Begründer des Deutschen Reiches zu würdigen. Die Kolonialpolitik des ehemaligen Reichskanzlers findet in den überlieferten Reden zur Einweihung zumindest keine Erwähnung.

Waren die Kolonien in Lehrveranstaltungen ein Thema?

Eine erste Auswertung der Lehrveranstaltungen von 1845 bis 1915 ergibt keine Treffer zu Schlagworten wie „Kolonie“, „Übersee“ oder „Tropen“. In den Stundenplänen von 1915 bis 1935 finden sich insgesamt lediglich drei Veranstaltungen zur „Kolonialbotanik“. Bei Abfragen der Deutschen Kolonialgesellschaft über kolonialwissenschaftliche und verwandte Vorlesungen an deutschen Hochschulen für die Jahre 1933 bis 1936 meldete Hohenheim keine Veranstaltungen.

Anders sieht es auf der Ebene individueller Biographien Hohenheimer Studierender aus. So ist für einzelne Studenten belegt, dass sie nach Abschluss ihres Studiums unter anderem nach Deutsch-Ostafrika auswanderten und dort als Pflanzungsverwalter oder Kolonialbeamte wirkten. Allerdings ist die Quellenlage zum späteren Wirkungskreis Hohenheimer Studierender zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt sehr dünn.

Wie sieht es bei den Lehrenden aus?

Die Personalakten von Lehrenden konnte ich nur stichprobenartig auswerten. Hierbei wurde ich bislang lediglich auf zwei Begebenheiten aufmerksam, die allerdings vor bzw. nach der Tätigkeit in Hohenheim liegen.

So unternahm Prof. Carl Fruwirth vor seiner Berufung nach Hohenheim Reisen nach Übersee und verfasste in dieser Zeit Publikationen zur Züchtung kolonialer Gewächse. Prof. Wilhelm von Branco, der von 1895 bis 1899 den Hohenheimer Lehrstuhl für Mineralogie und Geologie innehatte, nahm einige Jahre nach seinem Weggang aus Hohenheim an der bekannten Tendaguru-Ausgrabungsexpedition in Tansania teil.

Haben Sie eine Erklärung für die insgesamt eher zurückhaltende Position der Hochschule in Bezug auf die Kolonialbestrebungen des Deutschen Reichs?

Hierüber lässt sich allenfalls spekulieren. Möglicherweise spielte die ländliche Lage eine Rolle. Der Gründungsauftrag legt den Fokus zudem sehr klar auf eine Verbesserung der regionalen Landwirtschaft. Die national-konservative Einstellung der Professorenschaft hätte, wie gesagt, eher ein stärkeres Engagement vermuten lassen.

Zu bedenken bleibt, dass die Quellenlage zur Kolonialzeit am Universitätsarchiv insgesamt relativ dünn ist. Die Ergebnisse der Recherchearbeiten müssen somit vorläufig bleiben und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Auswertung weiterer Quellen eines Tages zu anderen Rückschlüssen führt.

Zudem bezogen sich die bisherigen Recherchen ausschließlich auf den eigentlichen Zeitraum kolonialen Besitzes des Deutschen Reiches, die Auswirkungen von kolonialen Wahrnehmungsmustern bis weit in die deutsche Nachkriegszeit oder auch bis heute haben wir zunächst ausgeklammert.

Ein interessanter Fokus für Folgeprojekte wäre zum Beispiel die Analyse kolonialer Sprachmuster in inneruniversitären Diskursen, z.B. im Zusammenhang mit Forschungstätigkeiten in den Tropen und Subtropen oder bei Entwicklungshilfeprojekten. Ganz allgemein dürfte zu erwarten sein, dass sich Diskursmuster der jeweiligen Zeit auch in Hohenheim wiederfinden.

Kurz gesagt: Die Frage nach den Kontinuitäten zwischen der formalen Kolonialzeit, dem Kolonialrevisionismus der Zwischenkriegszeit und den kolonialen Bestrebungen der Nationalsozialisten bis hin zum heutigen Wissenschaftsbetrieb wird uns als Gesellschaft noch eine ganze Weile beschäftigen.

Wir werden berichten. Vielen Dank für das Gespräch.


Interview: Leonhardmair


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