Schwergewichte der Forschung

ISS-Experiment erforscht Nervenzellen im Weltall  [10.04.17]

PD Dr. Claudia Koch und Dr. Florian Kohn beim Parabelflug | Foto: Universität Hohenheim / Fg. Membranphysiologie

Langsamere Reaktionen und verändertes Aufnahmevermögen von Medikamenten – in der Schwerelosigkeit funktionieren Nervenzellen nicht mehr wie gewohnt. Warum das so ist, untersucht nun ein Forschungsteam der Uni Hohenheim – und schickt die Nervenzellen dafür versuchsweise ins Weltall. Im November ist es mit seinen Experimenten auf der Internationalen Raumstation ISS vertreten. Die Erkenntnisse könnten eines Tages nicht nur erkrankten Astronauten zugutekommen.


Das gesamte Leben auf der Erde hat sich unter ihr entwickelt: Die Schwerkraft ist ein wesentlicher Faktor für alle Stoffwechselvorgänge. Wenn sie wegfällt, ändern sich die elektrischen Eigenschaften von Nervenzellen, die Signale brauchen in Schwerelosigkeit länger – und daran sind die Zellmembranen schuld.

Das haben Dr. Florian Kohn und PD Dr. Claudia Koch vom Hohenheimer Fachgebiet Membranphysiologie in Vorversuchen herausgefunden. „In Experimenten mit künstlichen Zellen sahen wir, dass sich Schwerelosigkeit auf die Zellmembran auswirkt, die eine Zelle umschließt“, erklärt der Biophysiker Kohn. „Denn diese Schicht verändert ihre Viskosität, wird also gewissermaßen leicht verflüssigt.“

Gravitationsabhängige Strukturen in neuronalen Zellen

Das Projekt „Gravitationsabhängige Strukturen in neuronalen Zellen“ startete am 1.10.2015. Das DLR fördert das Projekt über das BMWi mit 527.592 Euro über einen Zeitraum von drei Jahren. Projektleiter ist Dr. Florian P.M. Kohn vom Fachgebiet Membranphysiologie in Hohenheim.


Eine der Folgen sei, dass dadurch zum Beispiel Substanzen wie Medikamente leichter oder auch schwerer in die Zelle eingeschleust werden können, erläutert seine Kollegin Koch. „Eine andere Frage ist, ob sich Nervenzellen in Schwerelosigkeit anders entwickeln. Von Knochen etwa ist bekannt, dass sie sich in Schwerelosigkeit mit der Zeit abbauen – doch was geschieht mit Nervenzellen?“ gibt die Expertin zu bedenken.


Fliegende Brutschränke: ISS-Experiment im November 2017

Aufschluss soll ein Experiment im Weltraum geben: Voraussichtlich ab 1. November 2017 wird die Internationale Raumstation ISS den beiden als Labor dienen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) fördert das Projekt über das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit knapp 530.000 Euro und macht es zu einem Schwergewicht der Forschung in Hohenheim.

Sechs winzige, vollautomatisch agierende Hightech-Boxen will das Forschungsteam auf die Reise schicken. Darin enthalten sind menschliche Tumorzellen, die robuster und einheitlicher sind als echte Nervenzellen und als Modell dienen. Kohn und Koch beziehen sie in gefrorener Form vom Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen.

„Die Zellen wachsen in den geschlossenen Mini-Brutschränken auf Kulturmedium heran. Die Nährstoffe werden ihnen automatisch zugeführt“, beschreibt Kohn das Experiment. Nach sieben Tagen gibt das System Retinsäure dazu, eine Substanz, die von Vitamin A abgeleitet ist. „Das sorgt dafür, dass sich die Zellen zu Nervenzellen entwickeln. Nach weiteren sieben Tagen werden diese chemisch fixiert, zurück auf die Erde gebracht und im Labor untersucht“, schildert der Experte.

Schwergewichte der Forschung

Als Schwergewichte der Forschung gelten an der Uni Hohenheim Forschungsprojekte ab 250.000 Euro Fördersumme für apparative Forschung bzw. 125.000 Euro für nicht-apparative Forschung.


Den Ergebnissen ihrer Untersuchungen fiebert das Forschungs-Duo bereits jetzt entgegen: „Schließlich ist es das erste Mal, dass wir die Zellen auf der ISS testen können.“


Kurz schwerelos: Parabelflüge und Höhenforschungsraketen


Die meisten ihrer Versuche müssen wesentlich zügiger vonstattengehen: Ganze 22 Sekunden Schwerelosigkeit wissen die beiden für ihre Experimente zu nutzen. Denn bereits seit rund zehn Jahren nehmen sie regelmäßig an Parabelflügen teil. Bei diesen Kampagnen, organisiert vom DLR und der ESA, fliegt die Firma Novespace in Bordeaux mit einem umgebauten Airbus A310.

„Der Vorteil ist, dass wir selbst mit an Bord gehen und unsere Versuche betreuen können“, erzählt Koch. „Wir fliegen dann an einem Flugtag 31 Parabeln – mit jeweils 22 Sekunden für unsere Experimente.“

Etwas mehr Zeit bieten die sogenannten Höhenforschungsraketen, die ebenfalls zum Forschungsprogramm gehören. „Diese Raketen fliegen 300 km hoch und landen rund 15 Minuten später wieder. Das beschert uns sechs Minuten Schwerelosigkeit“, freut sich Kohn. Dafür müssen sie die Experimente allerdings, ähnlich wie für das ISS-Experiment, im Miniatur-Format und voll automatisiert konstruieren.


Missionstagebuch: Countdown zum Start auf die ISS

Letztendlich geht es den beiden um Grundlagenforschung, wenn sie erkunden, wie sich die biophysikalischen Eigenschaften von Zellen unter Weltraumbedingungen ändern. „Wir wollen zum Beispiel besser verstehen wie Medikamente in eine Zelle gelangen und wie wir dies beeinflussen können“, erläutert Kohn.

Das käme nicht nur einem im All erkrankten Astronauten zugute, bei dem die Dosierung der Medikamente angepasst werden müsse: „Auch auf der Erde kann das dazu beitragen, Medikamente zu optimieren.“

Bei der zweiten Frage nach der Entwicklung von Nervenzellen unter Schwerelosigkeit betritt das Forschungs-Duo mit seinem ISS-Experiment Neuland. Ab etwa drei bis vier Wochen vor dem Start am 1. November 2017 wollen sie, wie bereits bei früheren Raketenstarts, in ihrem Missionstagebuch von den Vorbereitungen berichten.

Text: Elsner

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