NATURE-Publikation: Genetik von Erkrankungen
Technologieexplosion auf der Schwelle zur klinischen Anwendung [10.01.20]
Eine kurze Geschichte eines hochdynamischen Forschungsfelds: Ernährungswissenschaftlerin und Genetikerin der Universität Hohenheim gibt Überblick über 25 Jahre Forschung zur Genetik menschlicher Erkrankungen
Effektive Prävention, neuartige Therapieansätze, systematische Erforschung von seltenen sowie komplexen Erkrankungen: Auf die Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2001 folgte eine Wissensexplosion, die bis heute immer weiter an Fahrt aufnimmt. In den kommenden Jahren könnten die neuen Erkenntnisse über die genetischen Ursachen von menschlichen Erkrankungen teils auch in Kliniken und Arztpraxen Anwendung finden. Im Rahmen des 150-jährigen Jubiläums von Nature zeichnen Prof. Dr. Melina Claußnitzer und ihre Co-Autoren auf Anfrage des Wissenschaftsjournals in einer aktuellen Publikation nach, wie Fortschritte in der Biotechnologie, Biobanken, künstliche Intelligenz und weitere Faktoren in den letzten 25 Jahren zu entscheidenden wissenschaftlichen Durchbrüchen führten und welche Entwicklungen und Herausforderungen sich in den kommenden Jahrzehnten abzeichnen. Prof. Dr. Claußnitzer leitet an der Universität Hohenheim in Stuttgart das Fachgebiet für Ernährungswissenschaft. Parallel leitet sie an der Harvard Medical School und dem Broad Institute of MIT and Harvard in Boston eine Arbeitsgruppe und ist Mitbegründerin der International Common Disease Alliance (ICDA). Die Publikation ist online verfügbar unter: www.nature.com/articles/s41586-019-1879-7
Als das menschliche Genom 2001 nach einem gut 10-jährigen Prozess unter Zusammenarbeit von über tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erstmals vollständig sequenziert werden konnte, verschlang das aufwändige Vorhaben rund 3 Milliarden US-Dollar. Dank technologischen Fortschritten kann ein individuelles genetisches Screening heute bereits für unter 1.000 Euro durchgeführt werden.
Vorstellbar ist, dass ein Blick in das Erbgut in nicht allzu ferner Zukunft bei Vorsorge-Untersuchungen routinemäßig mit dazugehört. Denn inzwischen steht fest: Bei einer Vielzahl von menschlichen Erkrankungen ist die individuelle Anfälligkeit bis zu einem gewissen Grad erblich bedingt.
Rück- und Ausblick auf ein hochdynamisches Forschungsfeld
Schon heute ist es möglich, für Patienten einen individuellen polygenetischen Risiko Score zu erstellen, der teils präzise vorhersagt wie wahrscheinlich eine bestimmte Erkrankung ausbricht, welchen Verlauf sie nimmt oder wie hoch die Risiken für Nebenwirkungen bei einem bestimmten Medikament sind. In vielen anderen Bereichen steht die Forschung kurz vor der klinischen Anwendbarkeit.
„Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir in den kommenden Jahrzehnten noch eine rasant wachsende Anzahl weiterer medizinischer Innovationen und auch neuer Therapieansätze sehen, die auf dem genetischen Verständnis von Krankheiten beruhen. Es ist vielleicht keine Übertreibung zu sagen, dass wir auf der Schwelle zu einem neuen medizinischen Zeitalter stehen“, fasst Prof. Dr. Melina Claußnitzer zusammen.
Neben komplexen technischen Herausforderungen in der experimentellen Forschung und der Datenanalyse, gilt es dabei allerdings unter anderem auch noch eine Reihe neuer ethischer Fragestellungen zu bearbeiten: „Wir müssen uns dieser Diskussion stellen und darauf basierend Richtlinien entwickeln, wie neue Verfahren vertretbar in das Gesundheitssystem integriert werden können. Nicht zuletzt muss auch die Ausbildung von Fachärzten um neue Themengebiete erweitert werden“, so Claußnitzer.
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift NATURE geben die Ernährungswissenschaftlerin und ihre Co-Autoren einen Rück- und Ausblick auf das hochgradig dynamische Forschungsfeld, dessen Output an neuen Erkenntnissen bis heute von Jahr zu Jahr ansteigt.
Durchbruch dank großer Biobanken, künstlicher Intelligenz und neuen Sequenzierungstechnologien
Für den enormen Wissenszuwachs der letzten 15 Jahre verantwortlich sind neben technischen Fortschritten bei der DNA-Sequenzierung vor allem der Aufbau von Biobanken mit Daten von großen Populations-basierten Kohorten in Europa, Nordamerika, Asien und anderen Regionen. Die Forschungs-Community erhielt somit Zugang zu Genomdatensätzen und biomedizinischen Daten (Phänotypen) von mehreren hunderttausenden Menschen. Solche Biobanken fanden ihren Ursprung in der Framingham Kohorte sowie der deCODE Kohorte mit einigen wenigen tausenden Teilnehmern. Heute gilt die UK Biobank mit rund 500.000 Individuen als Vorreiter in Sachen Größe und Data Sharing Policies.
Ohne die parallele Entwicklung von experimentellen Hochdurchsatzstrategien sowie computergestützten Analyseverfahren hätten die Forscherinnen und Forscher den darin verborgenen Wissensschatz allerdings nicht bergen können. Erst neue Algorithmen ermöglichten es in den letzten Jahren, die riesige Datensätzen zu vergleichen und typische Muster von Gen-Varianten zu identifizieren, die sich bei erkrankten und gesunden Menschen unterscheiden.
Mehrere Probleme bestehen dabei jedoch nach wie vor, betont Prof. Dr. Claußnitzer: „Da die Pionier-Arbeit in Europa geleistet wurde, sind beispielsweise hauptsächlich Genome von Europäern in den Datenbanken hinterlegt. Menschen aus Afrika, Asien oder Südamerika können deshalb von den medizinischen Innovationen im Moment nur in weit geringerem Umfang profitieren. Eine wichtige Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte wird es deshalb sein, diese Lücke zu schließen und z.B. auch Entwicklungs- und Schwellenländer bei dem Aufbau von Biobanken zu unterstützen“, so Prof. Dr. Claußnitzer.
Ermutigende Erfolge: Genetik seltener Krankheiten
Die ersten Erfolge konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits in den 1990er Jahren verzeichnen, bei der Erforschung von seltenen Krankheiten. Diese treten bei weniger als 1 % der Bevölkerung auf und haben zumeist gravierende Auswirkungen für die Lebenserwartung der Patienten.
„In früheren Jahrzehnten waren Ärzte weitgehend machtlos, wenn ein Neugeborenes mit einem unbekannten Leiden auf die Welt kam. Heute kann ein genetisches Screening zeigen, an welcher Stelle der DNA die zugrundeliegende Gen-Variante liegt. Ein Abgleich mit Datenbanken, die auf seltene Krankheiten spezialisiert sind, wie z.B. Matchmaker oder DECIPHER, erlaubt es, Fälle mit der gleichen Erkrankung zu finden und so erstmals auf breiterer Basis Behandlungsmethoden zu entwickeln.“
Detektiv-Arbeit: Genetik häufiger Krankheiten
Die genetische Architektur der seltenen Krankheiten ist vergleichsweise wenig komplex, da sie zumeist nur mit einem einzigen Gen in Verbindung gebracht werden. Völlig anders gestaltet sich dies hingegen bei verbreiteten, polygenetischen Erkrankungen wie z.B. Bluthochdruck, Adipositas, Typ-2-Diabetes, Herzinfarkt, Alzheimer etc., deren Ausbruch durch das Zusammenspiel einer Vielzahl genetischer Varianten bedingt wird, die jeweils für sich genommen nur einen geringen Effekt ausüben.
„Weil die Forschungserfolge in diesem Gebiet lange Zeit ausblieben mehrten sich Zweifel, ob die Genetik überhaupt einen Schlüssel zum Verständnis komplexer Krankheiten liefern können wird“, berichtet Prof. Dr. Claußnitzer. „Tatsächlich bestand das Problem jedoch darin, dass die experimentellen Technologien erst noch entwickelt werden mussten, um die komplexen Muster in der DNA zu identifizieren, die mit dem Ausbruch dieser Krankheiten in Zusammenhang stehen. Seit 2007 gelang es in genomweite Assoziationsstudien schließlich mehr als 60.000 solcher Regionen zu identifizieren. Allerdings bliebt damit zunächst immer noch unklar, über welche Mechanismen die assoziierten Regionen ganz konkret zum Ausbruch der Krankheiten beitragen.“
Gestörte Gen-Regulierung als Ursache von Erkrankungen
Am Anfang eines tiefergehenden Verständnisses stand eine Erkenntnis, die die Community in großes Erstaunen versetzte: „Früher ging man davon aus, dass die wesentliche Aufgabe der Gene darin besteht, den Aufbau von Proteinen zu steuern. Durch die Sequenzierung des menschlichen Genoms wurde klar, dass in Teilen der DNA überhaupt kein solcher ‚Bauplan‘ vorliegt. Man vermutete zunächst, dass diese nicht-kodierenden Regionen des Genoms weitgehend ohne Funktion seien: Gewissermaßen Müll, der sich im Lauf der Evolution angesammelt hat. Da der Anteil dieser einstmals als ‚Junk‘ titulieren Bereiche bei 98 % liegt, erschien diese Hypothese evolutionsbiologisch zunehmend unplausibel“, so Prof. Dr. Claußnitzer.
Tatsächlich hat sich der Blick auf die nicht-codierenden DNA-Bereiche in den letzten Jahren dramatisch verändert. Denn ca. 90 % der assoziierten Regionen, die mit komplexen Krankheiten in Verbindungen stehen, liegen in den nicht-kodierenden Bereichen.
Heute wissen wir, dass zahlreiche dieser Regionen des Genoms eine regulierende Funktion besitzen: Mittels genetischer Signale schalten sie das Ablesen von Genen an oder aus. Störungen dieser Gen-Regulation gelten inzwischen als wichtigste genetische Ursachen für komplexe Erkrankungen.
„Die große Herausforderung der Community besteht darin, eine kausale Genotyp-Phänotyp-Kette zu erkennen. Dies beinhaltet die Verknüpfung eines genetischen Erkrankungssignals innerhalb des nicht-kodierenden Genoms mit den regulierten Genen sowie deren molekularen, zellulären und physiologischen Konsequenzen. Die Erforschung dieser Mechanismen hat erst vor wenigen Jahren begonnen und führt bereits in einigen Fällen zu völlig neuen Erkenntnissen im Bereich kardiovaskulärer Erkrankungen, Schizophrenie, Adipositas und Typ-2-Diabetes. Derartige Erkenntnisse können genutzt werden um neue Behandlungsstrategien zu entwickeln“, sagt Prof. Dr. Claußnitzer.
Ausblick
„Um das volle Potenzial der Genetik für die Medizin auszuschöpfen und an die Patienten zu bringen, müssen die kollaborativen Forschungsanstrengungen in ganz verschiedenen Bereichen fortgesetzt und weiter intensiviert werden“, ist Prof. Dr. Claußnitzer überzeugt. „Insbesondere gilt es biostatische Strategien zu optimieren, experimentelle Technologien und computergestützte Analyse-Methoden weiterzuentwickeln, ethnisch diverse Biobanken aufzubauen und weltweit Standards für Data Sharing Policies für diese Biobanken zu etablieren, um so eine immer detaillierte ‚Karte‘ der Beziehungen zwischen Sequenzvarianten und medizinischen Phänotypen zu erstellen, die zur Grundlage neuer medizinischer Behandlungen werden kann.“
Publikation
Claussnitzer, M. et al. (2020): A brief history of human disease genetics, Nature 577
Text: Leonhardmair
Kontakt für Medien:
Prof. Dr. Melina Claußnitzer, Universität Hohenheim, Institut für Ernährungswissenschaften
T +49 711 459 22283, E melina.claussnitzer@uni-hohenheim.de