Obama in Analysen vorn – doch:
„Positive Wahlumfragen machen noch keinen US-Präsidenten“  [24.10.08]

Wahlkampf im Visier der Forschung: Universität Hohenheim liefert Themen, Analysen, Hintergründe zur US-Präsidentschaftswahl (Teil 4)
 
Vollständiges Themenpaket unter www.uni-hohenheim.de/us-wahl/

Obama habe bereits gewonnen, verkünden einige Wahlpropheten in den USA. Doch auch das Gewerbe der modernen Propheten in den Umfrageinstituten ist ein zweischneidiges Schwert – Meinungsforschung und Meinungsmache, das liegt eben manchmal sehr nah beieinander, befürchten zumindest europäische Kritiker. „Das Wettrennen der Parteien bekommt oft mehr Aufmerksamkeit als die politischen Inhalte“, weiß Prof. Dr. Frank Brettschneider, Wahlforscher der Universität Hohenheim. Den Weltrekord im Berichten halten die US-amerikanischen Medien, die täglich bis stündlich neue Daten liefern – bis das letzte Wahllokal geschlossen hat. Doch der Kommunikationswissenschaftler beruhigt: Umfrageergebnisse verändern zwar die politische und journalistische Kultur in den USA – und zunehmend auch in Europa – ein Volk von Mitläufern erzeugen sie deshalb noch lange nicht.

Aufhören, wenn es am schönsten ist – das wäre unamerikanisch. Am spannendsten sind Wettrennen schließlich immer am Schluss: „Hausinterne Meinungsforschungsinstitute der großen US-Zeitungen analysieren nicht nur täglich Effekte einzelner Wahlkampfveranstaltungen, sie versorgen Wähler und Parteien buchstäblich bis zur letzten Sekunde mit selbstproduzierten Zahlen“, berichtet Prof. Dr. Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim. „Aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen ist es den Bewohnern der Westküste sogar möglich, den Gang zur Urne mit ersten handfesten Auszählungsergebnissen aus dem Osten wie New York, Maine oder Massachusetts anzutreten.“

 

Angst vor Herdentrieb unberechtigt

Europäer haben da offenbar schon erheblich mehr Angst vor dem Herdentrieb des Menschen. Politisch Unentschlossene könnten sich aus Bequemlichkeit oder dem Wunsch dazuzugehören, der Mehrheit anschließen, lautet eine häufig geäußerte Kritik.

So stoppt die Bundesrepublik die Stimmungsberichte am Wahltag, in Frankreich gilt das Verbot eine ganze Woche vor der Wahl, Polen hält vierzehn Tage für angemessen und italienische Wähler werden – zu ihrem eigenen Wohl – sogar einen Monat lang vor möglicher „Manipulation“ durch Umfrageergebnisse abgeschirmt.

„Sogar viele Journalisten sprechen sich für eine Ausweitung der Sperre aus“, weiß Prof. Dr. Brettschneider. Doch die Wählerinnen und Wähler sind weniger anfällig für Beeinflussung, als intellektuelle Kritiker annehmen. „Sehr gut untersucht ist etwa der so genannte Western-Voting-Effekt“, berichtet der Kommunikationswissenschaftler. Ergebnis: „Wähler an der Westküste stimmen nicht anders ab, wenn sie von den Stimmauszählungen der Ostküste erfahren haben.“

 

Campaign-Junkies und Entertainment

„Die Umfrageergebnisse und Analysen bedienen vor allem zwei Gruppen“, erklärt der Experte. „Die so genannten Campaign-Junkies nehmen begierig alle Informationen auf, die sie über den Wahlkampf erhalten können. Sie sind politisch hoch interessiert, allerdings meist auch bereits auf eine Partei festgelegt“.

Die zweite Gruppe, die einen Großteil der Medienkonsumenten ausmache, nehme den Wettkampf der Parteien eher als Entertainment wahr, ohne sich später an genaue Zahlen zu erinnern oder sich mit einer Analyse zu beschäftigen. Dieses Bedürfnis nach Unterhaltung werde vor allem von dem so genannten Horserace-Journalism bedient, der Hochrechnungen mehr Gewicht als Inhalten einräumt und sich in den letzten Jahren zu einer etablierten journalistischen Stilform entwickelt hat.

 

Keine Mitläufer – kein Mitleid

„Weder ein Mitläufereffekt, noch ein Mitleidseffekt konnten von der Forschung nachgewiesen werden“, klärt Prof. Dr. Brettschneider auf. Allenfalls könne ein vermutet knappes Wahlergebnis etwas mehr Menschen zur Wahlbeteilung motivieren. Eine eindeutige Prognose zugunsten einer Partei wirke hingegen leicht lähmend, da der eigenen Stimme kein großes Gewicht beigemessen werde. „Das gilt allerdings für Anhänger der Gewinner- und der Verliererpartei gleichermaßen“, betont der Experte.

Kritik sei weniger bei den Umfragen selbst als bei der Umfrage-Berichterstattung angebracht. So habe in den vergangenen Jahren mit zunehmender Häufigkeit solcher Artikel, deren Qualität deutlich nachgelassen. Oft werde nur noch auf „jüngste Umfrageergebnisse“ Bezug genommen, ohne genauere Quellen anzugeben. „Manipulativ sind weniger die Zahlen an sich, als eine unsaubere Zitierweise und tendenziöse Interpretation“, urteilt Prof. Dr. Brettschneider. Eine freiwillige Selbstverpflichtung von Journalisten könne demnach mehr bewirken als Verbote.

 

Traditionen und taktische Wähler

Für eine unterschiedliche Bewertung von Umfrageergebnissen auf europäischer und US-amerikanischer Seite sorgt allein die unterschiedliche politische Tradition. In den USA gibt es bereits seit 1820 Vorformen der Meinungsumfragen. In den so genannten „Straw Polls“ forderten Zeitungen ihre Leser auf, beigelegte Fragebögen an die Redaktion zurückzuschicken. Seit 1935 etablierten sich erste Meinungsforschungsinstitute mit Anspruch auf Repräsentativität. Mitte der 1960er Jahre gingen große Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehanstalten dazu über, so genannte „In-House polls“ einzurichten, also eigene Abteilungen, die nach Bedarf exklusive Daten erhoben.

In Deutschland wurde erstmals vor der Bundestagswahl 1976 in nennenswertem Umfang von Umfrageergebnissen berichtet, die hierzulande grundsätzlich kontroverser diskutiert werden. „Dabei ermöglichen die Meinungsumfragen den Wählern in Deutschland im Gegensatz zu den USA sogar Taktieren“, erklärt Prof. Dr. Brettschneider. Dafür sorge das deutsche Verhältniswahlrecht mit Koalitionsoptionen und die 5-Prozent-Hürde. Muss man etwa um den Einzug des kleineren Koalitionspartners in den Bundestag bangen, fühlt sich auch so mancher eingefleischte Parteianhänger zum „Fremdwählen“ motiviert. Wer gar keine Chance für die eigene Partei sieht, mag sich hingegen dem geringeren Übel zuwenden. „Tatsächlich macht aber nur ein geringer Prozentsatz überdurchschnittlich gebildeter und politisch Interessierter vom taktischen Wählen Gebrauch.“

 

Zur Person:

Sein Freitag gehört der US-Präsidentschaftswahl: Jeweils zum Ende der Woche wertet Prof. Dr. Frank Brettschneider gemeinsam mit dem Inhaltsanalyseinstitut Media Tenor International Wahlumfragen und Berichterstattung von ABC, CBS, NBC, Fox News, Time und Newsweek über den Wahlkampf jenseits des Atlantiks aus. In seinem DFG-geförderten Projekt „Die Amerikanisierung der Medienberichterstattung über Wahlen“ geht der Kommunikationswissenschaftler der Frage nach, ob sich die Wahlberichterstattung der deutschen Massenmedien an die der amerikanischen Fernsehsender und Tageszeitungen angleicht und welche Konsequenzen dies für das Wahlkampfmanagement in Deutschland hat. Zu seinen generellen Forschungsschwerpunkten zählen die Medienwirkungsforschung, die Wahl- und Einstellungsforschung, das Themenmanagement in Wirtschaft und Politik sowie das Communication Performance Management. Ein zweites Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Wirtschaftsberichterstattung der Massenmedien und ihren Konsequenzen für die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Menschen (u.a. Anleger- und Konsumentenverhalten).

 

Text: Leonhardmair / Klebs

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft
Tel.: 0711 459-24030, E-Mail: frank.brettschneider@uni-hohenheim.de


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