Koalitionsverhandlungen:
So könnten erfolgversprechende Strategien aussehen  [27.09.21]

Zwei potenzielle Kanzler und zwei Königsmacher: Verhandlungsexpert:innen der Unis Hohenheim und Potsdam beleuchten mögliche Strategien für die Koalitionsverhandlungen.

Rot-Grün-Gelb, Schwarz-Grün-Gelb oder doch wieder eine große Koalition: Die Regierungsbildung wird in den nächsten Wochen nicht einfach werden. Aus Verhandlungssicht ist das gestrige Wahlergebnis für Prof. Dr. Uta Herbst von der Universität Potsdam und Prof. Dr. Markus Voeth von der Universität Hohenheim in Stuttgart eine spannende Situation und eine große Herausforderung. Zusammen leiten sie die Negotiation Academy Potsdam (NAP) und beschäftigen sich mit Verhandlungsstrategien und -taktiken, auf die es jetzt ankommen dürfte. Dies zeigte sich schon gestern Abend, als FDP und Grüne aktiv den ersten Schachzug machten und verkündeten, dass sie sich zunächst einmal untereinander abstimmen wollen, bevor sie in Verhandlungen mit den beiden großen Parteien eintreten.
 
Gemeinsame Pressemitteilung der Universitäten Hohenheim und Potsdam


Das Wahlergebnis vom 26. September 2021 macht verschiedene Koalitionsoptionen möglich: Eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP sowie eine große Koalition aus SPD und CDU/CSU. Doch wie geht man die komplexen Verhandlungen am besten an? Sollten beispielsweise die Gespräche parallel oder nacheinander geführt werden?

Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich die beiden Direktoren der Negotiation Academy Potsdam (NAP) Prof. Dr. Uta Herbst von der Universität Potsdam und Prof. Dr. Markus Voeth von der Universität Hohenheim. Aus ihrer Sicht haben Grüne und FDP dazu noch am Wahlabend einen unerwarteten Aufschlag gemacht: Anstatt abzuwarten, bis sie von den größeren Parteien eingeladen werden, wollen sie sich zunächst einmal untereinander abstimmen. „Das ist ein kluger Schachzug und deutet auf einen ausgeklügelten Matchplan hin“, sagt Prof. Dr. Voeth von der Universität Hohenheim.

„Denn in diesen Gesprächen werden Grüne und FDP ausloten, welche Projekte des jeweils anderen sie NICHT unterstützen werden und welche toleriert werden können. Mit dieser Liste der gegenseitig tolerierbaren Projekte werden sie dann in die Gespräche mit den beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU gehen. Damit können sie verhindern, dass der größere Partner sie gegen den anderen kleineren ausspielt. Im Grunde läuft das damit quasi auf ein grün-gelbes Regierungsprogramm hinaus. Denn die beiden 'Kleinen' werden so ganz viele ihrer Themen durchsetzen können.“

Prof. Dr. Herbst erklärt den Grund: „Verhandlungstechnisch nutzen Grüne und FDP nun aus, dass sie jeweils eine Alternative haben, ein so genanntes BATNA („Best alternative to a negotiated agreement“), SPD und CDU/CSU aber nicht. Denn beide haben immer eine große Koalition ausgeschlossen – und das trotz offensichtlicher inhaltlicher Schnittmengen. Das fällt ihnen jetzt auf die Füße, da sie nun den in den Koalitionsverhandlungen FDP und Grünen praktisch ausgeliefert sind.“

Welche Möglichkeiten bleiben den beiden großen Parteien nun? Laut Prof. Dr. Voeth haben SPD und CDU/CSU im Wesentlichen nur folgende Optionen: Zum einen sollte die SPD, eine „große Koalition“ nicht weiter völlig ausschließen. Auch wenn möglicherweise keiner Lust dazu hätte, könne die große Koalition ein wichtiges Hilfsmittel sein, um in den Gesprächen eigene Themen gegenüber Grünen und FDP durchzusetzen: „Wahlgewinner Olaf Scholz sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, auf die CDU/CSU zuzugehen und sie zu Gesprächen über eine Koalition unter seiner Führung einzuladen, und damit gleichzeitig FDP und Grüne in Zugzwang bringen. Und wer weiß, vielleicht sind die Schnittmengen zwischen den großen am Ende doch größer als mit den sehr fordernden kleinen Parteien.“

Für die CDU/CSU sieht Prof. Dr. Herbst nur die Möglichkeit, damit zu drohen, doch lieber in Opposition zu gehen. Aus ihrer Sicht sei es gestern weder nötig noch verhandlungstaktisch geschickt gewesen, dass Armin Laschet gleich angekündigt habe, er wolle eine Koalition unter seiner Führung bilden: „So hat er den Grünen und der FDP noch mehr Macht gegeben. Denn sie wissen nun, dass er zu allem bereit ist, um an die Macht zu kommen.“ Prof. Dr. Markus Voeth ergänzt: „Besser wäre es gewesen, erst mal abzuwarten. Denn Grüne und FDP brauchen die CDU/CSU, um ihre eigenen Themen gegenüber der SPD durchzusetzen.“

Seine Empfehlung lautet daher, dass sich die CDU/CSU zurücknehmen und erstmal die anderen machen lassen. Durch das Ausspielen des BATNAs „Wir gehen in die Opposition!“ wachse sogar die Chance für CDU/CSU, ihre Themen durchzusetzen und vielleicht am Ende eine Koalition anzuführen. „Denn wenn Grüne und FDP die SPD nicht mehr mit ihrer Alternative „Koalition mit der CDU/CSU“ unter Druck setzen können, wird die SPD ihnen weniger Zugeständnisse machen. Und das vergrößert wiederum die Chancen der CDU/CSU doch noch eine Koalition unter eigener Führung zustande zu bringen“, analysiert Prof. Dr. Uta Herbst.


HINTERGRUND: Negotiation Academy Potsdam (NAP)

Die Negotiation Academy Potsdam (NAP) wurde 2013 an der Universität Potsdam gegründet und verfügt seit 2016 über einen zweiten Standort an der Universität Hohenheim. Tätigkeitsfelder der NAP sind die Bereiche Verhandlungsforschung, Verhandlungsschulung und der Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis. Ihr Leitbild ist ein ganzheitliches Verständnis von Verhandlungen als Managementprozess, der neben der eigentlichen Verhandlungsführung vor allem auch vor- und nachgelagerte Managementaufgaben betrachtet (z.B. Verhandlungsvorbereitung oder Verhandlungscontrolling).

Text: Stuhlemmer

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Markus Voeth, Fachgebiet Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing & Business Development, Direktor der Negotiation Academy Potsdam
T +49 711 459 22925, E voeth@uni-hohenheim.de

Prof. Dr. Uta Herbst, Lehrstuhl für Marketing, Universität Potsdam, Direktorin der Negotiation Academy Potsdam
T +49 331 977 3854, E uta.herbst@uni-potsdam.de


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