Schaufenster Bioökonomie:
Initiative Bunte Wiese Stuttgart wirbt für „mehr Unordnung“ [29.06.20]
Artenschutz vor der Haustür: Studierende der Universität Hohenheim geben Impulse, wie sich Gärten und Grünanlagen in Insektenparadiese verwandeln
Sie beschäftigen sich mit kleinen Lebewesen, doch es geht ihnen um etwas Großes: Insekten sind die Basis-Arbeiter in den Ökosystemen, die letztlich auch uns am Leben halten. Das dramatische Insektensterben der letzten Jahrzehnte muss der Gesellschaft zu denken geben, betont die studentische Initiative „Bunte Wiese Stuttgart“ an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Ein wichtiges Handlungsfeld ist die Landwirtschaft, doch auch Stadtverwaltungen, öffentliche Einrichtungen, Firmen – und letztlich alle, die über einen Stückchen Grün verfügen, können einen Beitrag leisten. Wie Insektenschutz im städtischen Raum gelingen kann, will die Initiative unter anderem anhand von Beispielprojekten auf dem Hohenheimer Campus zeigen. Alles beginnt mit einem anderen Blick auf die faszinierende Welt, die uns umgibt. Anlässlich des Themenmonats „Artenvielfalt“ der Universität Hohenheim im Wissenschaftsjahr 2020 „Bioökonomie“ berichtet die Initiative im Interview von ihren Aktivitäten.
Im Interview: Marina Moser (Biologie-Studentin), Jenny Michel (Biologie-Studentin), Daniel Bölli (Biologie-Student), Dr. Sebastian Görn (Wilhelma) und Prof. Dr. Lars Krogmann (Fachgebiet Systematische Entomologie)
Was hat es mit der Initiative „Bunte Wiese Stuttgart“ auf sich?
Marina Moser: Im Dezember 2018 fand am Naturkundemuseum in Stuttgart eine internationale Forschungstagung zum Insektensterben statt, an der zahlreiche renommierten Forscherinnen und Forschern teilnahmen. Ihr Lagebericht hat uns Studierende ziemlich erschüttert. Wir hatten danach alle das Gefühl, dass wir uns nicht nur im Studium weiterhin mit dem Erhalt der Biodiversität befassen, sondern auch ganz konkret etwas unternehmen wollen.
Unser ursprüngliches Ziel war es, uns hier in Stuttgart für mehr Insektenwiesen im öffentlichen Raum einzusetzen. Schnell stellte sich aber heraus, dass es dabei sehr viele bürokratische Hürden gibt. Als Studierende stießen wir dabei irgendwann an unsere Grenzen.
Immer mehr erkannten wir allerdings auch, dass es in unserer Gesellschaft oft noch am grundlegenden Problembewusstsein fehlt bzw. an Kenntnissen wie Insektenschutz überhaupt gelingen kann. Deshalb haben wir unsere Ausrichtung ein wenig verlagert: Wir wollen Öffentlichkeitsarbeit leisten, praktisches Wissen vermitteln und beraten.
Daniel Bölli: Außerdem wollen wir natürlich unsere Begeisterung für die heimische Tier- und Pflanzenwelt weitgeben. Denn nur was man kennt und schätzt, kann man auch schützen! Unser Vorbild ist die Initiative „Bunte Wiese Tübingen“, die von Studierenden und Beschäftigten der dortigen Universität getragen wird. Im letzten Jahr haben sich darüber hinaus Schwester-Initiativen in Landau, Berlin und sogar in Tirol gegründet, mit denen wir kooperieren
Volksbegehren zur Rettung der Bienen, Samenmischungen als Give-Away an der Supermarktkasse, bienenfreundliches Blumensortiment im Baumarkt: Man hat den Eindruck das Thema Insektensterben wäre inzwischen in der Öffentlichkeit angekommen. Sehen Sie das anders?
Dr. Sebastian Görn: Jein. Medienberichte über die sogenannte Krefeld-Studie haben bei vielen Menschen schon einen gewissen Aha-Effekt ausgelöst, zumindest kurzfristig. Die Studie aus dem Jahr 2017 hat gezeigt, dass die Biomasse der Insekten in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten um ca. 75 % zurückgegangen ist.
Wenn man sich über das Thema unterhält, erinnern sich viele Menschen sofort daran, wie viele Insekten früher an ihren Windschutzscheiben hängen geblieben sind. Oder dass in ihrer Jugend noch viel mehr Schmetterlinge auf den Wiesen unterwegs waren. Ein grundsätzliches Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss, ist also vorhanden.
Auf der anderen Seite fragen wir uns, ob wirklich durchgedrungen ist, wie bedrohlich das Artensterben für unseren Planeten ist. Echte Konsequenzen lassen jedenfalls vielerorts noch auf sich warten. Hinzu kommt leider, dass viele Diskussionen und gutgemeinte Initiativen am Kern des Problems vorbeigehen.
Inwiefern?
Prof. Dr. Lars Krogmann: Wer in seinem Vorgarten z.B. bunte Blumen aus dem Baumarkt anpflanzt, die vielleicht sogar als besonders „bienenfreundlich“ angepriesen werden, leistet meist keinen großen Beitrag zum Insektenschutz. Denn häufig handelt es sich um exotische Pflanzen, die für heimischen Insekten nur einen begrenzten Wert haben, da sie in ihrer Lebensweise eben an die heimische Pflanzwelt angepasst sind.
Zwar kommen einige wenige generalistische Insekten auch mit Exoten aus dem Baumarkt zurecht, aber das sind in der Regel solche Arten, die aufgrund ihrer Anspruchslosigkeit ohnehin nicht bedroht sind. Problematisch ist auch, dass Bienen häufig zum Symbol für die gesamte Problematik des Insektensterbens gemacht werden.
Vielleicht deshalb, weil besonders sichtbar ist welche Leistung sie durch die Bestäubung für den Menschen erbringen. Was ist daran problematisch?
Dr. Sebastian Görn: Zum einen denken viele Menschen bei Bienen zuerst an die Honigbienen. Sie machen sich dabei nicht immer klar, dass es sich dabei ja um ein Nutztier handelt, das vom Menschen gezüchtet und gehalten wird. Deshalb sind Honigbienen vom Artensterben gar nicht betroffen. Ein Bienenstock auf dem Dach mag also ein schönes Hobby sein, leistet jedoch keinen substantiellen Beitrag gegen das Artensterben. Tatsächlich konkurrieren Zucht- und Wildbienen unter Umständen sogar miteinander.
Mit ungleich weniger Aufmerksamkeit bedacht werden hingegen Käfer, Spinnen, Falter und Co: Alle Wiesenbewohner – Tiere wie Pflanzen – leisten jedoch ihren spezifischen und unschätzbar wertvollen Beitrag für ein funktionierendes Ökosystem, das letztlich auch uns mit fruchtbarer Erde, sauberem Wasser, frischer Luft und Nahrung versorgt.
Welche Maßnahmen können Privatpersonen, Stadtverwaltungen und Einrichtungen also ergreifen, um wirklich etwas für den Erhalt der Artenvielfalt zu tun?
Daniel Bölli: Der wichtigste Punkt ist eigentlich ganz einfach: Weniger mähen! Bei einem Mähvorgang sterben
50-90 % der Insekten. Wildblumen kommen nicht zur Samenreife. Wird das Schnittgut auf der Fläche liegen gelassen wird zusätzlich auch noch der Boden gedüngt. Heimische Wildkräuter bevorzugen jedoch magere Böden und können sich so kaum gegenüber dem Rasen durchsetzen. Ideal ist es, nur zweimal im Jahr zu mähen, im Juni und im September. Dabei sollte man dann ca. 10 % der Fläche stehen lassen.
Dr. Sebastian Görn: Ein weiteres Problem ist der Verlust von Strukturelementen, die für viele Arten überlebenswichtig sind, wie Sandhügel, Totholz, Offenstellen im Rasen, Laubhaufen, Pfützen und so weiter. Jeder Quadratzentimeter muss heute irgendwie „ordentlich“ und geplant sein. Zusammengefasst kann man vielleicht sagen: Wir müssen wieder lernen, ein Stück mehr „Unordnung“ in unserer Umgebung zuzulassen.
Ein Problem ist möglicherweise die gesellschaftliche Akzeptanz. Wer möchte schon gerne als nachlässiger Gärtner dastehen?
Jenny Michel: Wer dies vermeiden will, kann zum Beispiel ein kleines Schild in seinem Vorgarten anbringen – und somit gleichzeitig Aufklärungsarbeit leisten. Auch wir selbst wollen in den kommenden Wochen in den Hohenheimer Gärten Informationstafeln anbringen, damit Spaziergänger besser erkennen, was es mit den wilden Wiesen auf sich hat – und somit vielleicht sogar zum Nachahmen animieren.
Marina Moser: Bei öffentlichen Flächen empfiehlt sich gegebenenfalls auch ein sogenannter „Akzeptanzstreifen“: Das heißt man lässt einen Großteil der Fläche wachsen, mäht jedoch z.B. entlang von Wegen, um zu demonstrieren, dass es sich um eine bewusste Maßnahme handelt. Gleichzeitig können solche ausgewählten Flächen einen Kompromiss zwischen verschiedenen Nutzungsarten schaffen, da sie sich zum Picknicken oder Spielen eignen.
Doch letztendlich müssen wir auch unsere ästhetischen Ideale hinterfragen. Solange wir in Wildkräutern in erster Linie „Unkraut“ sehen, hat der Insektenschutz schlechte Karten. Stattdessen sollten wir lernen, den besonderen Reiz, den eine wilde Wiese bietet, zu entdecken.
Welche Projekte verfolgt die Initiative „Bunte Wiese Stuttgart“ aktuell?
Jenny Michel: Der erste Schritt war der Aufbau einer Homepage, die z.B. mit Artikeln und Links über wissenschaftliche Hintergründe zum Insektensterben informiert, aber auch ganz praktische Tipps für das Mähen und weitere Schutzmaßnahmen gibt. In unserer Reihe „Wiesenbewohner des Monats“ wollen wir dort außerdem dazu einladen, die faszinierende Welt um uns herum zu entdecken und heimische Arten besser kennenzulernen.
Das gleiche Ziel verfolgen wir über unsere Social Media-Kanäle. Beispielsweise beteiligen wir uns unter dem Hashtag #MehrAlsUnkraut an einer internationalen Aktion von Biologinnen und Biologen. Wenn wir am Wegesrand eine seltene heimische Pflanze entdecken, schreiben wir mit Kreide den wissenschaftlichen Namen daneben und posten anschließend ein Foto davon auf Instagram und Facebook.
Marina Moser: Öffentlichkeitsarbeiten wollen wir in Zukunft aber auch verstärkt mit Info-Ständen und Veranstaltungen leisten – und nicht zuletzt durch unsere Modellprojekte auf dem Hohenheimer Campus. Anhand von gut sichtbaren Flächen wollen wir hier demonstrieren, wie gut es aussieht und wie viele Arten sich ansiedeln, wenn man eine Wiese einfach wachsen lässt.
Ein Erfolg, über den wir uns ganz besonders freuen, ist die Kooperation mit der Hedwig-Dohm- und der Alexander-Fleming-Schule, sowie der it.schule Stuttgart: Zwei Lehrer wurde auf unsere Initiative aufmerksam und regten an, auf dem Schulgelände eine Insektenwiese anzulegen, die gleichzeitig als Projekt im Unterricht behandelt wird.
Wer ist in der Initiative aktiv?
Daniel Bölli: Wir sind offen und freuen uns über alle, die mitmachen wollen: Im Moment sind Hohenheimer Biologie-Studierende in der Mehrheit, aber es sind z.B. auch zahlreiche wissenschaftliche Beschäftigte des Staatlichen Naturkundemuseums Stuttgarts bei uns aktiv.
Unterstützt werden wir übrigens auch von Hohenheimer Professoren, von den Hohenheimer Gärten und vom Naturkundemuseum. Auch das Landesamt für Vermögen und Bau, das für die Flächen um die Uni-Gebäude zuständig ist, konnten wir als offiziellen Kooperationspartner gewinnen.
Prof. Dr. Lars Krogmann: Auch seitens des neuen Kompetenzzentrums für Biodiversität und integrative Taxonomie, das von der Uni Hohenheim und dem Naturkundemuseum gemeinsam getragen wird, unterstützen wir die Initiative. Denn wir teilen ein wichtiges gemeinsames Ziel: Praxiswissen zum Erhalt der Artenvielfalt in die Gesellschaft tragen!
Vielen Dank für das Gespräch!
HINTERGRUND: Wissenschaftsjahr 2020 Bioökonomie
2020 steht das Wissenschaftsjahr im Zeichen der Bioökonomie – und damit einer nachhaltigen, biobasierten Wirtschaftsweise. Es geht darum, natürliche Stoffe und Ressourcen nachhaltig und innovativ zu produzieren und zu nutzen und so fossile und mineralische Rohstoffe zu ersetzen, Produkte umweltverträglicher herzustellen und biologische Ressourcen zu schonen. Das ist in Zeiten des Klimawandels, einer wachsenden Weltbevölkerung und eines drastischen Artenrückgangs mehr denn je notwendig. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerichtete Wissenschaftsjahr Bioökonomie rückt das Thema ins Rampenlicht.
Die Bioökonomie ist das Leitthema der Universität Hohenheim in Forschung und Lehre. Sie verbindet die agrarwissenschaftliche, die naturwissenschaftliche sowie die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät. Im Wissenschaftsjahr Bioökonomie informiert die Universität Hohenheim in zahlreichen Veranstaltungen Fachwelt und Öffentlichkeit zum Thema.
Text: Leonhardmair
Kontakt für Medien:
Prof. Dr. Lars Krogmann, Universität Hohenheim, Institut für Biologie
E lars.krogmann@smns-bw.de