Schaufenster Bioökonomie:
Bizarrer Effekt von Herbiziden kann Unkrautwachstum fördern [04.08.20]
Herbizide in niedrigen Dosierungen stärken das Pflanzenwachstum. Mit den Folgen für Landwirtschaft, Umwelt & Evolution beschäftigt sich eine Forscherin der Uni Hohenheim.
Es klingt paradox, aber in geringen Mengen können Unkrautbekämpfungsmittel wie Glyphosat das Pflanzenwachstum sogar fördern. Die Bedeutung dieser so genannten Hormesis für Landwirtschaft, Umwelt und Natur erforschen Agrarökologen im Team von PD Dr. Regina Belz an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Dabei ist „Hormesis wesentlich mehr als nur die simple Förderung des Pflanzenwachstums.“ erläutert sie. Denn der Effekt ist vielschichtig und hängt von sehr vielen Faktoren ab. Angefangen bei den genetisch festgelegten Eigenschaften der jeweiligen Pflanzen, über die Wachstumsbedingungen bis hin zur Dosierung des Herbizids und dessen Zusammenspiel mit anderen Umwelteinflüssen, wie Bodenverhältnissen, Wetter, Düngung, aber auch anderen Schadstoffen oder sogar Substanzen, die von den Pflanzen selbst abgegeben werden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt „HerbBi“ mit rund 354.190 Euro. Damit zählt es zu den Schwergewichten der Forschung an der Universität Hohenheim.
Die Dosis macht das Gift – was Paracelsus einst als Grundregel für die Entwicklung von Heilmitteln für den Menschen formulierte, gilt auch für Pflanzen: Giftige Substanzen wie Unkrautbekämpfungsmittel können das Pflanzenwachstum durchaus fördern, sofern ihre Konzentration nicht zu hoch ist.
Die Agrarwissenschaftlerin PD Dr. Regina Belz beschäftigt sich an der Universität Hohenheim schon länger mit diesem Phänomen: „Hormesis kann nicht nur durch Herbizide ausgelöst werden, sondern auch durch andere Pestizide und Umweltschadstoffe, darunter auch Ozon. Selbst natürliche Metabolite von Pflanzen können diesen Effekt verursachen.“ Sie vermutet, dass der Stress, den ein Giftstoff verursacht, Reaktionen in den Zellen auslöst, die letztendlich zu einer Art „Abhärtung“ führen und die Pflanze fitter gegen erneute Stresseinwirkungen machen.
Ihr besonderes Interesse gilt den Auswirkungen, die dieses Phänomen für die Pflanzenproduktion, die Unkrautbekämpfung und andere Pflanzen haben kann, die nicht Ziel der Bekämpfungsmaßnahmen sind.
Hormesis hat potenziell Auswirkungen auf Landwirtschaft, Umwelt und Evolution
Dabei sieht sie zwei relevante Aspekte: Einerseits könnten niedrige Herbizid-Dosierungen genutzt werden, um den Ertrag von Kulturpflanzen zu fördern und Kulturpflanzen stressresilienter zu machen. Andererseits tritt Hormesis auch bei regulären Herbizidanwendungen auf, wenn Kulturen, Unkräuter oder Wildpflanzen auf der behandelten Fläche oder darüber hinaus versehentlich niedrigen Dosierungen ausgesetzt sind, z. B. weil die Wind- und Wetterverhältnisse ungünstig sind.
Dies könnte tiefgreifende Auswirkungen in wirtschaftlicher, ökologischer, und/oder evolutionärer Hinsicht haben. „Über Herbizid-Hormesis gibt es nach wie vor wenige Untersuchungen, so dass das Wissen darüber und über mögliche Auswirkungen noch immer sehr begrenzt ist“, erklärt PD Dr. Belz.
Deswegen sind in ihrem aktuellen Forschungsprojekt „HerbBi – Herbizid-vermittelte biphasische Reaktionen in Pflanzen“ die hormetischen Nebenwirkungen von Herbizidanwendungen, wie sie in der Praxis üblich sind, das zentrale Thema. Ihr besonderes Interesse gilt dabei Wildpflanzen wie Weidelgras, Kamille oder Gänsefuß, von denen bekannt ist, dass sie sehr häufig resistent gegen Herbizide werden.
Insbesondere die Tatsache, dass die Hormesis auch beim derzeit meistverwendeten Herbizidwirkstoff Glyphosat auftritt, macht diese Substanz für sie zu einem interessanten Versuchsobjekt. Neben dem umstrittenen Glyphosat bezieht sie auch weitere Substanzen mit anderen Wirkprinzipien in ihre Untersuchungen mit ein, wie PSII- oder ALS-Herbizide oder natürliche Phytotoxine, die verschiedene Stoffwechselwege der Pflanzen blockieren.
Hormesis begünstigt Resistenzbildung und verändert Pflanzenpopulationen nachhaltig
Erste Ergebnisse ihrer Labor- und Gewächshausversuche zeigen, dass durch chemische Bekämpfungsmaßnahmen herbizidresistente Unkräuter begünstigt werden und eine erhöhte Resilienz gegenüber einem erneuten Herbizidstress an ihre Nachkommen weitergeben. Doch nicht nur dies: Die Samen dieser Pflanzen sind oft zahlreicher, größer und schwerer, was ihren Keimlingen einen weiteren Überlebensvorteil verschafft. Noch dazu ist bei ihnen der Hormesis-Effekt stärker ausgeprägt. Dadurch kann Herbizid-Hormesis die Evolution und Dynamik von Herbizidresistenz erheblich begünstigen.
Zudem kann ein solcher Hormesis-bedingter Selektionsdruck für und gegen bestimmte Subpopulationen auch in natürlichen Pflanzenpopulationen auftreten und hier zu einer Verschiebung der Merkmalsverteilung innerhalb der Gesamtpopulation einer Pflanzenart führen.
Dabei sind vor allem die Extreme betroffen, d. h. die Anzahl an besonders kleinen, empfindlichen oder auch besonders großen, resilienten Pflanzen wird deutlich verändert und damit die Anpassungsfähigkeit einer Population. „Welche nachhaltige Bedeutung dies für Landwirtschaft, Umwelt und Evolution hat ist noch völlig offen“, sagt PD Dr. Belz.
Hormesis tritt nicht nur bei Pflanzen auf
Ganz kompliziert wird es, wenn sie versucht die Verhältnisse nachzustellen, wie sie im Freiland häufig auftreten. Hier kann es zu einem Gemisch von verschiedenen aktiven Substanzen in niedrigen Dosierungen kommen, z. B. weil durch Wind Pestizide vom Nachbarfeld herüberwehen, zusätzlich Umweltschadstoffe eingetragen werden oder einfach nur durch natürliche Metabolite. Diese hormetischen Cocktail-Effekte sind derzeit kaum zu fassen und mathematisch vorherzusagen.
„Bis man weiß, ob und wie sich die Hormesis in der Landwirtschaft und der Umwelt langfristig auswirkt, ist noch viel Forschungsarbeit notwendig. In Anbetracht der Herbizidmengen, die jährlich ausgebracht werden, sollten wir jedoch die Herbizid-Hormesis in seiner vollen Wirkung verstehen“, ist das Fazit von PD Dr. Belz. „Da Hormesis für viele biologische und toxikologische Wissenschaften relevant ist, sind die Ergebnisse dieses Projektes nicht nur für Agronomen bedeutend, sondern für alle, die sich mit chemischen Belastungen in medizinischen, toxikologischen und ökologischen Studien befassen.“
HINTERGRUND: Projekt „HerbBi - Herbizid-vermittelte biphasische Reaktionen in Pflanzen“
Ziel des Projektes HerbBi ist in Labor- und Gewächshausversuchen ein grundlegendes Verständnis der Herbizid-Hormesis zu erarbeiten, um ihre Bedeutung für Pflanzenproduktion, Unkrautbekämpfung und Nichtzielpflanzen besser bewerten zu können.
Das Projekt läuft seit Ende Juni 2017 und ist auf drei Jahre angelegt. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit rund 354.190 Euro gefördert. Damit zählt das Projekt zu einem der Schwergewichte der Forschung an der Universität Hohenheim.
HINTERGRUND: Schwergewichte der Forschung
33,9 Millionen Euro an Drittmitteln akquirierten Wissenschaftler der Universität Hohenheim 2019 für Forschung und Lehre. In loser Folge präsentiert die Reihe „Schwergewichte der Forschung“ herausragende Forschungsprojekte mit einem finanziellen Volumen von mindestens 350.000 Euro für apparative Forschung bzw. 150.000 Euro für nicht-apparative Forschung.
HINTERGRUND: Wissenschaftsjahr 2020|21 Bioökonomie
In den Jahren 2020 und 2021 steht das Wissenschaftsjahr im Zeichen der Bioökonomie – und damit einer nachhaltigen, biobasierten Wirtschaftsweise. Es geht darum, natürliche Stoffe und Ressourcen nachhaltig und innovativ zu produzieren und zu nutzen und so fossile und mineralische Rohstoffe zu ersetzen, Produkte umweltverträglicher herzustellen und biologische Ressourcen zu schonen. Das ist in Zeiten des Klimawandels, einer wachsenden Weltbevölkerung und eines drastischen Artenrückgangs mehr denn je notwendig. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerichtete Wissenschaftsjahr Bioökonomie rückt das Thema ins Rampenlicht.
Die Bioökonomie ist das Leitthema der Universität Hohenheim in Forschung und Lehre. Sie verbindet die agrarwissenschaftliche, die naturwissenschaftliche sowie die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät. Im Wissenschaftsjahr Bioökonomie informiert die Universität Hohenheim in zahlreichen Veranstaltungen Fachwelt und Öffentlichkeit zum Thema.
Text: Stuhlemmer
Kontakt für Medien:
PD Dr. Regina Belz, Universität Hohenheim, Fachgebiet Agrarökologie der Tropen und Subtropen
T 0711/459-23681, E regina.belz@uni-hohenheim.de