Demokratie-Monitoring:
Reformbedarf bei direkter Demokratie  [06.10.22]

Studie der Uni Hohenheim zeigt: Beteiligung von Bürger:innen fördert Zufriedenheit mit der Demokratie. Unzufriedenheit führt hingegen zu Forderungen nach direkter Demokratie

Rund die Hälfte aller Bürger:innen hält die Fragen in Bürgerentscheiden für unverständlich. Das ist das Ergebnis einer Studie von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Hohenheim in Stuttgart. „Grundsätzlich ist jedoch eine große Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Frank Brettschneider. Die Zufriedenheit ist mit der Landespolitik etwas größer als mit der Bundes- oder der kommunalen Politik. Auf allen drei Ebenen liegt sie in Baden-Württemberg über dem Bundes-Durchschnitt. Aber es gibt auch Verbesserungsbedarf – vor allem bei Bürgerentscheiden. Präsentation der Studie unter bit.ly/3SHsvBT


In ihrem zweiten Demokratie-Monitoring befragten die Forschenden im Juli 2022 4.011 Menschen nach ihrer Zufriedenheit mit der Demokratie – 2.516 Personen in Baden-Württemberg und 1.495 im restlichen Bundesgebiet. Bereits beim ersten Demokratie-Monitoring vor einem Jahr nahmen 4.066 Menschen teil (2.513 in Baden-Württemberg und 1.553 im restlichen Bundesgebiet).

Die Befragten gaben unter anderem Auskunft darüber, wie wichtig sie dialog-orientierte Beteiligungsmöglichkeiten finden und ob sie selbst schon mal daran teilgenommen haben. Die Forschenden untersuchten zudem, welche Demokratie-Varianten bevorzugt werden: repräsentative Demokratie, direkt-demokratische Entscheidungsfindung oder dialogische Demokratie. Dabei unterschieden sie jeweils zwischen der Bundes-, der Landes- und der kommunalen Ebene.


Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist groß

Insgesamt ist eine große Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Die Zufriedenheit ist auf Landesebene am größten (68 %). Es folgen die kommunale Ebene (65 %) und die Bundesebene (64 %). Auf allen drei Ebenen ist die Zufriedenheit der Menschen in Baden-Württemberg größer als im Bundesdurchschnitt. Und auf allen drei Ebenen ist die Zufriedenheit im Vergleich zu 2021 etwas gesunken.

Frauen und Männer zeigten sich mit dem Funktionieren der Demokratie in Baden-Württemberg etwa gleich zufrieden. Dabei sind Menschen bis 29 Jahre sowie ab 60 Jahre in Baden-Württemberg etwas zufriedener als Menschen zwischen 30 und 59 Jahren. Und: Anhänger der Grünen, der CDU und der SPD sind mit dem Funktionieren der Demokratie in Baden-Württemberg sehr zufrieden. Anhänger der AfD sind als einzige Gruppe überwiegend unzufrieden.


Bürger:innen wollen transparent und verlässlich informiert werden und mitreden können

Im Vergleich zu 2021 nahezu unverändert: Etwa zwei Drittel der Befragten wünschen sich eine Demokratie, in der zwar grundsätzlich die gewählten Repräsentant:innen die politischen Entscheidungen treffen, in der diese aber vorher die Bürgerinnen und Bürger anhören und deren Empfehlungen in ihre Überlegungen einbeziehen. Auf die direkt-demokratischen Varianten entfällt etwa ein Viertel der Präferenzen. Diese verteilen sich zu etwa gleichen Teilen in eine reine direkt-demokratische Variante und in eine direkt-demokratische Variante, der eine Dialog-Komponente vorangestellt ist.

„Die Bürgerinnen und Bürger wollen gar nicht unbedingt selbst entscheiden, aber sie wollen transparent und verlässlich informiert werden und mitreden können“, fasst Prof. Dr. Brettschneider die Ergebnisse zusammen.

Dabei bestehen zwischen den Partei-Anhängerschaften Unterschiede hinsichtlich ihrer Demokratie-Präferenzen. Die Anhänger:innen der Grünen, der CDU und der SPD bevorzugen überdurchschnittlich oft die repräsentativen Varianten, die Anhänger:innen der AfD und der Linken die direkt-demokratischen Varianten.


Unzufriedenheit führt zu Forderung nach direkter Demokratie

Die unterschiedlichen Demokratie-Präferenzen der verschiedenen Partei-Anhängerschaften deuten schon darauf hin, dass eine Ursache dafür politische Unzufriedenheit ist. Tatsächlich ist der Zusammenhang eindeutig: Je zufriedener die Menschen in Baden-Württemberg mit dem Funktionieren der Demokratie sind, desto weniger sprechen sie sich für eine der direkt-demokratischen Varianten aus. Und umgekehrt: Je unzufriedener sie mit dem Funktionieren der Demokratie sind, desto häufiger bevorzugen sie eine direkt-demokratische Variante.

Ein Zusammenhang zeigt sich auch darin, ob die Menschen den Eindruck haben, dass Politiker:innen die Interessen der Bürger:innen wahrnehmen. „Vor allem politikverdrossene Menschen fordern eine direkte Demokratie“, so Prof. Dr. Brettschneider. Hingegen: Je mehr die Menschen den Eindruck haben, dass ihre Interessen berücksichtigt werden, desto seltener wünschen sie sich direkt-demokratische Varianten.

„Kurzum: Die politische Unzufriedenheit und die Politikverdrossenheit sind entscheidend für die individuellen Demokratie-Präferenzen“, sagt Prof. Dr. Brettschneider. „Für direkt-demokratische Demokratie-Varianten treten auf allen Ebenen überdurchschnittlich häufig jene Befragten ein, die mit dem Funktionieren der Demokratie oder mit dem Handeln von Politiker:innen allgemein unzufrieden sind. Das erklärt auch, warum die AfD-Anhänger:innen überdurchschnittlich häufig direkt-demokratische Elemente fordern. Offenbar versprechen sie sich davon eine Möglichkeit, die aus ihrer Sicht missliebigen Entscheidungen der Gemeinderäte, der Landtage oder des Deutschen Bundestags wieder aufzuheben“.


Bei direkter Demokratie besteht Reformbedarf

Bei Bürgerentscheiden wird immer wieder der Fragewortlaut auf den Stimmzetteln kritisiert. Vor allem bei jenen Bürgerentscheiden, die sich gegen einen Gemeinderatsbeschluss richten, ist das Verständnis oft erschwert: Dann muss mit ‚Nein‘ stimmen, wer für den Beschluss des Gemeinderates ist. Vor diesem Hintergrund befassten sich die Forschenden auch mit der idealen Frageformulierung.

„Es besteht Reformbedarf“, fasst Prof. Dr. Brettschneider die Ergebnisse zusammen. „Hier ist der Gesetzgeber gefordert, bei den Frageformulierungen für Bürgerentscheide für mehr Klarheit zu sorgen“. Denn etwa die Hälfte der Befragten hält die übliche Ja/Nein-Frageformulierung für unverständlich. Vor allem in den älteren Altersgruppen überwiegt ihr Anteil deutlich.

Gut verständlich ist hingegen eine Frageformulierung, bei der sich die Befragten zwischen zwei Antworten entscheiden können: „Ich bin für …“ oder „Ich bin gegen …“. Sie wird von über 80 Prozent der Befragten und auch von Älteren als verständlich angesehen. Bei dieser Variante geben auch fast 90 Prozent der Befragten an, dass es ihnen leicht fallen würde, ihre Präferenz für oder gegen ein Projekt auszudrücken.


Dialog-orientierte Bürgerbeteiligung ist wichtig

Die Menschen in Baden-Württemberg schätzen dialogische Beteiligung als sehr wichtig ein. Am wichtigsten finden sie diese auf kommunaler Ebene (91 % der Befragten), dann auf Landes-Ebene (74 %) und schließlich auf Bundes-Ebene (63 %).

Bei der Frage, ob die derzeitigen Möglichkeiten für dialogische Beteiligung ausreichen, unterscheiden die Menschen in Baden-Württemberg deutlich zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Während 58 Prozent die Möglichkeiten dialogischer Beteiligung auf kommunaler Ebene als ausreichend empfinden, trifft dies nur auf ein Drittel der Befragten zu, wenn es um die Landes-Ebene geht. Und nur 25 Prozent empfinden die Möglichkeiten auf Bundes-Ebene als ausreichend. Die Veränderungen im Vergleich zu 2021 sind marginal.

Dabei schätzen die Menschen in Baden-Württemberg den Umfang der Beteiligungsmöglichkeiten etwas besser ein als der Bundesdurchschnitt. Die Menschen im Land sind dementsprechend auch mit den Beteiligungsmöglichkeiten zufriedener als der Bundesdurchschnitt.

„Hier hat die baden-württembergische ‚Politik des Gehörtwerdens‘ offenbar positive Spuren hinterlassen“, meint Prof. Dr. Brettschneider „Zu nennen sind etwa Dialog-Foren mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern – zu Corona, zur Opern-Sanierung oder zu den Altersbezügen der Landtagsabgeordneten. Das ist der richtige Ansatz, er müsste aber noch viel häufiger verfolgt werden.“


Knapp die Hälfte der Menschen im Land nahm schon an Beteiligungs-Verfahren teil

In Baden-Württemberg geben 45 Prozent der Menschen an, in den letzten zehn Jahren bereits an einem Beteiligungs-Verfahren teilgenommen zu haben. Mit steigendem Alter steigt auch ihr Anteil. Zwischen Männern und Frauen gibt es kaum Unterschiede. Das Gleiche gilt für die Parteineigungen (Ausnahme: Die Linke).

Am häufigsten erfolgt diese Teilnahme auf der kommunalen Ebene (86 % all derer, die an Beteiligungs-Verfahren teilgenommen haben). 36 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg geben an, dass sie in den letzten zehn Jahren an einem Bürgerbeteiligung-Verfahren auf kommunaler Ebene teilgenommen haben. Das liegt leicht über dem Bundesdurchschnitt.

Die Zufriedenheit mit dem Ablauf des Verfahrens (49 %) ist größer als die Zufriedenheit mit dem inhaltlichen Ergebnis der Beteiligung (39 %). In beiden Fällen ist die Zufriedenheit in Baden-Württemberg etwas größer als im Bundesdurchschnitt.

Gut die Hälfte der Menschen, die sich beteiligt haben, geben an, dass die Bürgerbeteiligung ein Schritt in die richtige Richtung war. Nur 16 Prozent sagen, es habe sich um eine Show-Veranstaltung gehandelt. Und: „Die Teilnahme an dialogischer Bürgerbeteiligung fördert die Demokratiezufriedenheit, wenn die Teilnehmenden mit dem Verfahren und/oder dem Ergebnis zufrieden sind“, stellt Prof. Dr. Brettschneider fest.


Weitere Informationen

Text: Stuhlemmer / Elsner

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft
T +49 (0)711 459 24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de


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