Er digitalisiert die Lebensmittel-Verarbeitung  [09.01.22]

„From Farm to Fork“, die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln vom Ursprung der Rohstoffe bis zum Supermarkt, ist eines der großen Themen von Jun.-Prof. Dr. Christian Krupitzer. Dafür nutzt er auch sogenannte digitale Zwillinge.


Seit 1.10.2020 leitet er das Fachgebiet Lebensmittelinformatik an der Uni Hohenheim – an der Schnittstelle von Lebensmittelwissenschaft, Biotechnologie und Informatik. Er möchte die Lebensmittel-Verarbeitung weiter automatisieren und damit nicht nur Nachverfolgbarkeit, sondern auch die Hygiene und die Effizienz verbessern. In der Lehre setzt er auf Blended-Learning-Konzepte.


Herr Krupitzer, Ihr Fachgebiet heißt Lebensmittelinformatik. Was versteht man darunter?

Bisher ist der Begriff Lebensmittelinformatik in der Forschung noch nicht statisch definiert. An der Universität Hohenheim verstehen wir darunter die Digitalisierung der Lebensmittel-Verarbeitung sowie der Lebensmittel-Lieferkette. Wir operieren mit der Lebensmittelinformatik interdisziplinär an der Schnittstelle von Lebensmittelwissenschaft, Biotechnologie und Informatik.

Forciert wird die Digitalisierung der Lebensmittel-Verarbeitung in einem ganzheitlichen Ansatz, der die Lebensmittel-Lieferkette, Händler/Distributoren und Konsumenten einschließt. In enger Kooperation mit Partnern aus der Industrie wenden wir Methoden und Technologien aus den Bereichen Künstliche Intelligenz, prädiktive Datenanalyse, Industrie 4.0, adaptive Software-Systeme sowie Internet der Dinge (Internet of Things; IoT) in der Lebensmittel-Verarbeitung an. Ziel ist es, die Nachhaltigkeit, aber auch die Effizienz zu steigern.

Könnten Sie uns bitte Ihren eigenen Werdegang schildern?

Hinweis der Redaktion

Seit Beginn der Corona-Pandemie war es zeitlich nicht mehr möglich, die traditionellen Willkommensinterviews mit neuen Profs durchzuführen. Nun wird dies in Form einer Serie mit schriftlichen Fragebögen nachgeholt.


Nach meinem Bachelor- und Masterstudium in Wirtschaftsinformatik an der Universität Mannheim (mit einem Erasmus-Semester in Amsterdam), habe ich am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik bei Prof. Dr. Christian Becker in Mannheim promoviert. Mein Thema der Dissertation war im Bereich des Software Engineerings für adaptive Software-Systeme angesiedelt. Selbst-adaptive Software-Systeme sind Systeme, die ihr Verhalten zur Laufzeit adaptiv anpassen können um auf Änderungen in ihrer Umgebung zu reagieren, wie z.B. selbst-fahrende Fahrzeuge.

Nach meiner Promotion im August 2018 habe ich als Gruppenleiter für die Forschungsgruppe „Internet der Dinge und Cyber-physische Systeme“ bei Prof. Dr.-Ing. Samuel Kounev an der Universität Würzburg gearbeitet, bis ich meine Stelle im Oktober 2020 an der Universität Hohenheim angetreten habe.

Was ist die wichtigste Frage, die Sie bei Ihrer Forschung antreibt?

Die Lebensmittel-Verarbeitung ist schon lange hochautomatistiert, insbesondere auch aus Gründen der Hygiene – je weniger Menschen sich in der Industriehalle aufhalten, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Kontaminierung der Produkte mit von Menschen eingeschleusten Bakterien. Aber auch hier ist noch eine Effizienzsteigerung möglich, insbesondere mittels Digitalisierung und folglich besserer Kontrolle der Prozesse durch Datenanalyse. Die adaptive Steuerung des Verarbeitungsprozess ist eines der großen Forschungsthemen unseres Fachgebiets.

Nachverfolgbarkeit ist ein weiteres wichtiges Thema. Das Ziel ist die komplette Übersicht vom Ursprung der Rohstoffe bis zum Supermarkt („From Farm to Fork“). Dies liegt nicht nur im Interesse der Unternehmen aus Gründen der Wahrung der Produktqualität. Auch Kunden fordern zunehmend Transparenz. Hier hat die Lebensmittelinformatik einen großen Anteil daran, dies zu ermöglichen.

Wenn Sie über unbegrenzte Mittel und Möglichkeiten verfügen könnten: Welches Projekt würden Sie in Angriff nehmen?

Die durchgängige Nachverfolgbarkeit „From Farm to Fork“ in Kombination mit maschinellem Lernen zur proaktiven Erkennung kritischer Zustände wäre ein spannendes Projekt. Dies ist aktuell nur begrenzt möglich, da die verschiedenen Akteure Daten nicht austauschen und viele weitere Sensoren benötigt würden, um ein komplettes Bild der Lieferkette zu erhalten.

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Ein Datenaustausch und der Einsatz vieler verschiedener Sensoren und Analysen, auf die heute oftmals aus Kostengründen verzichtet wird, würde die Erstellung eines digitalen Abbilds der Lebensmittel, des sogenannten Digitalen Zwillings, erleichtern, der die Simulation und Optimierung der Lebensmittel-Verarbeitung ermöglichen könnte.

Mit welchen Forschungsthemen beschäftigen Sie sich im Augenblick?

Aktuell forschen wir besonders an zwei Themen: Food Supply Chain und Digitaler Zwilling.

In einem aktuellen Projekt fokussieren wir auf die intelligente Integration diverser Technologien – wie intelligente Sensoren, maschinelles Lernen, Blockchain – innerhalb der Food Supply Chain, um so die Lebensmittel-Nachverfolgbarkeit und -sicherheit zu unterstützen. Neuartige, im Verpackungsdesign integrierte, Sensoren tragen zur gezielten Sammlung und Speicherung von relevanten Daten in der Blockchain bei.

Analysen in Echtzeit werden ermöglicht durch die Integration aktueller Trends im maschinellen Lernen „on the edge“ (Edge ML), d.h. die Analysen finden direkt am Ursprungort der Daten statt und nicht retrospektiv in der Cloud. Dadurch können auch Prognosen integriert werden, um beispielsweise kritische Zustände prädiktiv vorherzusehen und adaptiv zu agieren.

Mit Hilfe eines digitalen Lebensmittel-Abbildes (engl. Digital Food Twin) kann jederzeit der aktuelle Zustand innerhalb der Produktion nachverfolgt werden kann. Während Ansätze aus der Industrie 4.0 oftmals auf die Analyse von Maschinendaten fokussiert, zielen wir auch auf eine produktbezogene Datenanalyse (z.B. die Auswirkungen des von Maschinen ausgeübten Drucks).

Mittels 3D-Druck sollen Replikate von Lebensmitteln erzeugt werden, die – mit Sensoren ausgestattet – Rückschlüsse auf die beteiligten Verarbeitungsprozesse zulassen. Mit Hilfe von Verfahren des maschinellen Lernens wird aus diesen Daten und weiteren Datenquellen (z.B. Maschinendaten, Prozessdaten oder Rohstoffdaten) der digitale Zwilling erzeugt, um so die Rückverfolgbarkeit der aktuellen Produktion und des Lebensmittelstatus zu gewährleisten, aber auch um die Simulation der Veränderlichkeit des Lebensmittels im Verarbeitungsprozess zu ermöglichen.

Können sich Studierende an Ihren Forschungsprojekten beteiligen?

Ich versuche grundsätzlich, forschungsorientierte Lehre zu praktizieren. Dies beginnt damit, dass wir aktuelle Forschungsarbeiten unseres Fachgebiets als Case Studies in die Vorlesungen integrieren. Aber auch Seminararbeiten, Humboldt Reloaded oder Master-Projekte sowie Bachelor-/Masterarbeiten sind nahtlos in unsere Forschung integriert.

In einem kooperativen Betreuungsansatz wird den Studierenden von Beginn an erläutert, wie ihre Arbeiten in unserer Forschung eingegliedert werden. Qualitativ hochwertige Arbeiten werden gemeinsam mit den Studierenden publiziert, d.h. diese können aktiv als Co-Autoren an den Publikationen mitarbeiten. Ebenso unterstützen Studierende in HiWi-Jobs unsere Forschung durch Recherchen oder Beiträge in der Implementierung von Software-Prototypen.

Was sind die wesentlichen Inhalte Ihres Lehrkonzeptes?

In unseren Lehrveranstaltungen setzen wir auf Blended Learning Konzepte. Das heißt, dass das traditionell in Vorlesungen durch Frontalunterricht vermittelte Wissen in Videos vermittelt wird. Dies wird unterstützt durch Selbstlernfragen. In Präsenzveranstaltungen steigen wir mit den Studierenden in das Thema ein und schließen die Lehreinheiten z.B. mit einem Quiz, einer Case Study oder Übungen, ab. Unterstützt wird dies durch sehr praktische Übungseinheiten.

Die Entscheidung für das Blended-Learning-Konzept erfolgte bereits vor Corona, da die Studierenden mit einem solchen Konzept in ihrem Tempo lernen können, z.B. durch Pausieren des Videos und Einholen weiterer Informationen über andere Webseiten. Auch unterstützen solche Videos die Vermittlung von Programmierkenntnissen, da die Studierenden parallel den Code schreiben und mit Abwandlungen „experimentieren“ können.

Was bedeutet für Sie persönlich gute Lehre?

Mir ist insbesondere die angewandte Vermittlung von Wissen wichtig. Zum einen bedeutet dies, genau zu überlegen, was das Ziel der Lehrveranstaltung sein soll und die Veranstaltung dementsprechend zu konzipieren. Beispielsweise bin ich kein Fan der reinen Wissensabfrage in Klausuren, sondern setze sehr stark auf Transferaufgaben.

Zum anderen muss ebenso klar sein, wie die Zielgruppe aussieht, und die Inhalte müssen dementsprechend angepasst sein. Ein Beispiel bildet unsere Lehrveranstaltung „Grundlagen der Informatik“ im Bachelor: Uns ist klar, dass wir die Studierenden nicht zu Software-Entwickler:innen formen werden und dies auch nicht das Ziel der Studierenden ist. Aber sowohl wir als auch die Studierenden sehen den Bedarf, Programmierkenntnisse zu erwerben, um später im Rahmen der Abschlussarbeit oder im Berufsleben diese für die Datenanalyse anzuwenden. Deshalb fokussieren wir auf diesen Aspekt und vermitteln gezielt die Kompetenzen, die dafür notwendig sind.

Wo arbeiten Ihre Absolventinnen und Absolventen später?

Die Karriereaussichten sind sehr gut: 84 Prozent der Unternehmen der deutschen Ernährungsindustrie sehen die Digitalisierung als große Chance an. Dies ist ein Ergebnis der Umfrage „Die Ernährung 4.0 – Status Quo, Chancen und Herausforderungen“ des Digitalverbands Bitkom und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) aus dem Jahr 2019. Insbesondere rücken in der aktuellen Dekade Szenarien verstärkt in den Fokus, die die Integration der Digitalisierung benötigen, z.B. Auftragsfertigung in Echtzeit durch digitalisierte Prozesssteuerung (62 % der Unternehmen in der Umfrage) oder Fertigung von individualisierten Lebensmitteln durch intelligente Prozesssteuerung (65 %).

Fachgebiet Lebensmittelinformatik

Jun.-Prof. Dr. Christian Krupitzer leitet seit dem 1.10.2020 das neu eingerichtete Fachgebiet. Die Besetzung der Professur erfolgt im Programm „Master 2016“, mit dem das Land Baden-Württemberg die Kapazitäten in Master-Studienplätzen ausbauen will. Die Tenure Track-Professur ist auf 6 Jahre befristet und wird bei Bewährung in eine reguläre Professur umgewandelt. mehr


Die genannte Umfrage von BVE und Bitkom zeigt aber auch, dass mangelnde Digitalkompetenz der Beschäftigten (88 %) ein großes Hemmnis darstellt. Beschäftigte müssen insbesondere für die Unterstützung der automatisierten Datenanalyse sowohl Kenntnisse des Machine Learning, als auch der Domäne, das heißt der Prozesse/Produkte, kombinieren. Dies ist notwendig, da Analysen mittels Machine Learning nur Korrelationen identifizieren, Fachwissen aber relevant ist zur Interpretation der Kausalität.

Solches Personal ist schwer zu finden, da die typische (auch universitäre) Ausbildung im Bereich der Lebensmitteltechnologie die Informationstechnologie noch nicht hinreichend integriert. Aus diesem Grund sind Data Scientists mit Spezialwissen – in diesem Fall in der Lebensmittelverarbeitung – aktuell auf dem Jobmarkt sehr gefragt.

Welchen guten Rat möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?

Die wichtigste Fähigkeit als Lebensmittelinformatiker:in ist sicherlich Interdisziplinarität. Im beruflichen Alltag haben sie eine Vermittlungsfunktion zwischen den Fachabteilungen, die die Prozesse der Lebensmittel-Verabeitung leiten, und der IT-Abteilung als technischer Ansprechpartner. Dafür ist es wichtig, dass Lebensmittelinformatiker:innen Kenntnisse in beiden Bereichen besitzen.

Ebenso von Bedeutung sind analytisches Denken sowie strukturiertes Arbeiten. Beide Teildisziplinen, Lebensmitteltechnologie und auch Informatik, benötigen diese Fähigkeiten per se: die Lebensmitteltechnologie lebt von der strukturierten Vorgehensweise, z.B. bei Laborversuchen, und in der Informatik ist insbesondere die analytische Problemlösung relevant. In der Lebensmittelinformatik sind diese von herausragender Wichtigkeit, da Lebensmittelinformatiker:innen als eines der wichtigsten Ziele die Optimierung von Prozessen ansehen.

Wie gefällt es Ihnen denn hier in Hohenheim?


Die Corona-Pandemie hat den Einstieg leider sehr erschwert. Aber insbesondere hat mich die sehr strukturierte Aufbereitung von Informationen im Intranet und Herr Klumpp als Ansprechpartner für Neuberufene sehr gut unterstützt. Die Hilfsbereitschaft der Beschäftigten in der Verwaltung und deren Verfügbarkeit für Gespräche auch in den Home-Office-Zeiten war ebenfalls sehr groß.

Auch im Kreis der Professor:innen wurde ich sehr gut aufgenommen. Insbesondere gefällt mir, dass ich bisher zu keiner Zeit das Gefühl hatte, dass zwischen Junior-Professor:innen und „normalen“ Professor:innen ein Unterschied gemacht wird. Das positive Feedback von Studierenden nach den ersten Lehrveranstaltungen war natürlich auch eine schöne Bestätigung. Und letztlich hat sich trotz Home-Office unser kleines Team mittlerweile sehr gut gefunden und wir haben eine positive, kreative Atmosphäre im Fachgebiet.

Noch eine letzte Frage, Herr Krupitzer: Wie verbringen Sie denn Ihre Freizeit?


Früher war ich regelmäßig joggen und habe auch an 10-km-Läufen, Halbmarathons und Marathons teilgenommen – mit dem Highlight der Teilnahme am Berlin-Marathon. Aber als Vater von drei kleinen Kindern im Alter von einem, drei und fünf Jahren wird meine Freizeit nun meist von den Kleinen gestaltet ;)

Herzlichen Dank für das Interview, Herr Krupitzer!


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