Herbarium: Besuch in der Bibliothek der Pflanzen [10.05.22]
Linsen und Spätzle sind DAS schwäbische Leibgericht. Heute stehen sie in der Mensa regelmäßig auf dem Speiseplan – vor 200 Jahren sah die Welt jedoch ganz anders aus. Nach einer großen Hungersnot im 19. Jahrhunderts waren die ersten Feldfrüchte ein wahrer Segen. Kurz nach der Gründung der Uni Hohenheim kam ein Teil der ersten Weizenernte ins ebenfalls neu gegründete Herbarium – und sicherte somit die Zukunft der schwäbischen Küche. Bis heute wird der Teig für Spätzle aus dem gleichen Weizen gemacht! Beim Besuch im Herbarium hat der Online-Kurier mehr über diesen und zahlreiche weitere wertvolle Pflanzenbelege erfahren.
Neue Serie: Die Museen und wissenschaftlichen Sammlungen der Uni Hohenheim sind wahre Schatzkammern. In der Reihe „Hohenheimer Schätze“ präsentiert die Redaktion jeden Monat ein besonderes Objekt auf Instagram. Der Online-Kurier stellt Personen und Einrichtungen dahinter vor.
Die Kuratorin des Hohenheimer Herbariums empfängt ihre Gäste in speziellen „Hausschuhen“, die nur für Tätigkeiten ins Herbar getragen werden. Wer ihr Reich im 1. Stock des Biologiegebäudes besuchen will, muss sich zuerst einem prüfenden Blick unterziehen: Jacke ablegen, Schuhe gut abstreifen, Taschen abstellen. Auf keinen Fall dürfen mit der Straßenkleidung Insekten oder deren Eier in die Sammlung gelangen. Denn auch konserviert haben die Pflanzen noch Fressfeinde. Und die kostbaren Belege verspeisen lassen – das kommt nicht in Frage.
Als Mahnung hängt ein Plakat mit den „meist gesuchten Insekten“ gut sichtbar direkt neben der Eingangstür des Hohenheimer Herbariums. Eine Erinnerung an die regelmäßige Schädlingskontrolle dürfte Dr. Rhinaixa Duque-Thüs allerdings kaum nötig haben. Denn getreu dem Motto „Kenne deinen Feind“ hat die ausgewiesene Pflanzenkennerin sich auch zu einer Expertin der Entomologie entwickelt.
Eine Bibliothek für Pflanzen oder: Eine Schatzkammer für die Forschung
Im Inneren des Herbariums angekommen fällt die Begrüßung schließlich umso herzlicher aus. Die Kuratorin berichtet gerne von den Schätzen ihrer Sammlung: „Im Hohenheimer Herbarium werden seit 200 Jahren Pflanzen konserviert und archiviert. Unsere Sammlung umfasst etwa eine halbe Millionen Belege“, referiert Duque-Thüs nicht ohne Stolz.
Ob in der Botanik oder der Klimaforschung – viele Forschende greifen regelmäßig auf die Pflanzenbelege des Herbariums zurück. Zum Beispiel, um die chemischen Stoffe und Vorgänge in einer Pflanze zu untersuchen. „Die präparierten Blüten können reaktiviert und anschließend analysiert werden. Das macht die Forschung unabhängig von der Blütezeit der Pflanzen“, erklärt die Kuratorin. Auch bereits ausgestorbene Arten können im Herbarium „reaktiviert“ und anschließend erforscht werden.
Die Pflanzenbelege helfen außerdem dabei, den Klimawandel besser zu verstehen. „In den Belegen stecken viele Informationen über die Umwelt“, sagt Duque-Thüs. Denn die Pflanzen werden samt Wurzelsystem konserviert – und enthalten somit auch Pilze und andere Mikroorganismen. Forschende können anhand der Belege deshalb ganz verschiedene Faktoren im Ökosystem analysieren.
Die Nachfrage ist laut Duque-Thüs groß: „Forschende aus aller Welt möchten unsere Belege nutzen. Deswegen digitalisieren wir sie und stellen unser Angebot auch online zur Verfügung.“
Dem schwäbischen Leibgericht auf der Spur
Aus der Fülle ihrer Schätze ein Objekt des Monats für den Instagram-Kanal der Uni Hohenheim auszuwählen, fällt der Kuratorin des Herbariums nicht leicht. In der Sammlung finden sich etwa Flechtenarten, die in unserer Region ausgestorben sind, präparierte Riesenbohnen und seltene Typus-Belege – sprich: konservierte Pflanzen-Exemplare, die als erste ihrer Art beschrieben und somit zu wichtigen Referenzen bei der Pflanzenbestimmung wurden. Um Veränderungen in der Pflanzenwelt zu dokumentieren, kommen zudem ständig aktuelle Pflanzenbelege aus aller Welt dazu.
Letztendlich entscheiden wir uns gemeinsam für einen Beleg, der eng mit der Gründungsgeschichte der Uni Hohenheim zu tun hat.
„Anfang des 19. Jahrhunderts kam es in Süddeutschland zu einer großen Hungersnot. Durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien legt sich eine Aschewolke wie einer Schleier über den Erdball, verdunkelte den Himmel und sorgte für ein ‚Jahr ohne Sommer‘ in Württemberg. Die Folgen: Missernten und die größte Hungersnot des Jahrhunderts“, berichtet Duque-Thüs zum Hintergrund.
Um solchen Hungerkrisen künftig entgegenzuwirken, gründete König Wilhelm der I. von Württemberg 1818 die landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt Hohenheim, die Vorläuferin der heutigen Universität. Hier sollte neues landwirtschaftliches Wissen in einer modernen Institution gebündelt werden.
Das Hohenheimer Herbarium |
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Das Herbarium der Universität Hohenheim umfasst circa 500 000 Belege und ist Teil der Sammlungen des Instituts für Biologie. Gegründet zu Beginn der 19. Jahrhunderts, umfasst die Sammlung Belege hauptsächlich aus Europa, aber auch dem Nahen Osten und Nordafrika. Neuere Sammlungsteile umfassen Arten aus Ostafrika und pflanzenpathogene Pilze aus der Gruppe der Oomyceten. |
Gute Ernten – Herbarbeleg sei Dank
Einige Jahre später gab es wieder normale Ernten in Süddeutschland. Ein Teil der ersten Weizenernte kam 1822 ins Hohenheimer Herbarium – als einer der ersten Belege in der damals noch kleinen Sammlung.
„Dieser Beleg war damals sehr wichtig“, erklärt die Kuratorin. „Nach der Hungersnot brauchte man schnell gute Ernten. Es war keine Zeit, mit verschiedenen Sorten zu experimentieren. Mit diesem Beleg wurde eine Sorte dokumentiert, die auch in ärmeren Böden gut wächst.“ Der Sommerweizen Triticum turgidum L. wächst auch heute noch auf der Schwäbischen Alb und ist wichtiger Bestandteil von Spätzle- und Brezelmehl.
1870 kam ein weiterer Schatz für das Herbarium dazu: Ein Beleg der Schwäbischen Alblinse. Sie wuchs bis in die 1950er Jahre auf der Schwäbischen Alb und galt dann lange als ausgestorben – bis sie in einer Genbank in St. Petersburg wiederentdeckt wurde. „Man hätte auch einfach in Hohenheim fragen können. Auch hier wurde die Alblinse über die Jahre aufbewahrt“, sagt Rhinaixa Duque-Thüs. Das Überleben des schwäbischen Leibgerichts ist dank des Herbariums also gesichert.
Archiv voll großer und kleiner Geschichte(n)
Viele der teils sehr alten Belege des Herbariums sind von Hand beschriftet. Für ungeübte Augen ist die verschnörkelte Schönschrift nur schwer zu entziffern. Doch die Kuratorin ist mittlerweile Profi: „Ich erkenne inzwischen an der Schrift, aus welcher Zeit ein Beleg stammt und ob er von einer jungen oder älteren Person verfasst wurde.“ Manche Sammler haben ihr ganzes Leben lang Belege ins Herbarium gebracht. Ihr Alter spiegelt sich in der Veränderung ihrer Handschrift – einige Belege erzählen also auch ganz persönliche Geschichten.
Andere Belege wiederum sind von historischer Bedeutung. Zu den Aufgaben der Kuratorin gehört es auch, die Geschichte der Belege einzuordnen. So ist der Weizenbeleg wichtig für die Regionalgeschichte Württembergs, aber auch für die Gründungsgeschichte des Hohenheimer Herbariums.
Internationale Belege geben wiederum Auskunft über die Geschichte der Herbarien an sich. „Die ersten Herbarbelege stammten aus Expeditionen in die sogenannte Neue Welt“, erklärt Rhinaixa Duque-Thüs. Reisende wie Alexander von Humboldt und sein Botanischer Reisekompagnon Aimee Bonpland brachten damals Dahlien nach Berlin, wo die fremden Pflanzen zu Symbolen für Macht und Luxus wurden.
„In diesem Kontext muss man auch über Biopiraterie sprechen“, betont Rhinaixa Duque-Thüs. Damit ist die Aneignung von Pflanzen und ihren Bestandteilen oder Genen durch geistige Eigentumsrechte gemeint. Dadurch können heute Konzerne über die Nutzung von Pflanzen bestimmen, die vor langer Zeit durch Expeditionen nach Europa kamen. Betroffene Ländern fordern bis heute Vorteilsausgleiche für die aus Ihrem Territorium mitgenommenen Pflanzen.
Text: Hagenau / Leonhardmair