Studentin aus Israel im Gespräch

„Nie wieder“ bedeutet „nie wieder“ – für alle  [12.12.23]

Olivenzweige vor bewölktem Himmel. Sharon Levy schickte uns diese Ansicht aus Ihrem Garten in Israel als ein Symbolbild für Frieden. Foto: Sharon Levy

„Ich möchte, dass keine Menschen mehr sterben, keine Israeli und keine Palästinenser, und dass alle Geiseln zurückkommen.“ Sharon Levy stammt aus Israel. Sie hat gerade ihren Agrar-Bachelor in Hohenheim beendet. Und im Gespräch hat sie vor allem ein Anliegen: Mit jedem Satz allen Menschen in Israel und den Palästinensergebieten gerecht zu werden. Levy glaubt an eine gemeinsame Zukunft für beide Völker, denn sie selbst hat sie bereits erlebt. Im Online-Kurier gibt sie Einblick in Ihre Gedanken und Hoffnungen.

 

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Dieses Interview wurde bereits Mitte November geführt, ist also nicht tagesaktuell. Die Freigabe durch Sharon Levy erfolgte erst nach ihrer Rückkehr nach Tel Aviv. Dafür waren mehrere Übersetzungsschritte zwischen Deutsch und Englisch notwendig. Für Levy sind die Aussagen jedoch zeitlos gültig.

Wir trafen Sharon Levy am 13. November kurz vor Ihrem Abflug nach Israel. Ursprünglich wollte sie ein Masterstudium in Hohenheim anschließen. Jetzt, so sagt sie, wolle sie erst einmal zurück zu ihrer Familie und die nächsten Schritte überdenken. Außerdem wolle sie sich in der Zivilbewegung engagieren. Per Zoom sei sie bereits einem Kurs an der Hebrew University beigetreten, der sich mit einem nachhaltigen Wiederaufbau der zerstörten Kibbuzim in der Grenzregion beschäftigt.

Im Interview: Vorsitzender der Jüdischen Studierenden-Union

Alon Bindes stammt aus Stuttgart, studiert an der Uni Hohenheim Wiwi im 7. Semester und hat den Bachelor so gut wie abgeschlossen. Seit 3 Jahren ist Bindes Mitglied der Jüdischen Studierenden-Union Württemberg (JSUW), seit 2 Jahren ihr Präsident und Vorsitzender. Im Online-Kurier berichtet er von Angst, Mut, Wut – und was es zur Zeit bedeutet in Deutschland Jude zu sein.

Zu drei palästinensischen Freunden im Gaza-Streifen versuche sie über WhatsApp Kontakt zu halten. „Sie sagen, sie hätten kein wirkliches Vertrauen in die israelische Armee und wären ständig in Bewegung auf der Suche nach Sicherheit vor der israelischen Bombardierung.“ Zu einem ihrer drei Freunde habe sie bereits den Kontakt verloren.

Interview

Sehr geehrte Sharon Levy, dürfen wir fragen, wie es Ihnen geht?

Die aktuelle Situation in diesen Tagen macht mich sehr traurig, sei es in meinem Land oder im Ausland.

All der viele Hass, das mangelndes Verständnis füreinander, die Unfähigkeit der Menschen um mich herum, die Sorgen der anderen Seite zu ertragen – all das gibt mir dass Gefühl, dass wir aus der Geschichte nicht gelernt haben.

Wer sich Frieden für dieses Land wünscht, sollte nicht für eine Seite Partei ergreifen und wie bei einem Fußballspiel mit israelischen oder palästinensischen Fahnen schwenken. Das hier ist kein Spiel.

Die Anschläge vom 7. Oktober waren schrecklich, das Leid und das Trauma dauern an. Ich bin mir der Komplexität unserer eigenen Geschichte bewusst. Jetzt möchte ich, dass keine Menschen mehr sterben, keine Israeli und keine Palästinenser, und dass alle Geiseln zurückkommen.

Sie haben uns bereits vor dem Interview erzählt, dass es einen Wendepunkt in Ihrem Leben gab, an dem sich Ihre Wahrnehmung von Israel und Palästina verändert hat. Sie haben uns auch gesagt, dass das Vehikel dazu die Wissenschaft und die wissenschaftliche Zusammenarbeit war.

Nach dem Militärdienst bin ich durch die Welt gereist. Als ich zurückkam, wollte ich Environmental Studies studieren und schrieb mich dafür am Arava Institut ein. Das Institut gehört zur Ben-Gurion-Universität. Es befindet sich mitten in der Wüste, nur wenige Minuten von der Grenze zu Jordanien und etwa eine Stunde vom Roten Meer entfernt.

Ein Drittel der Studierenden sind Israelis, ein Drittel sind Araber und ein weiteres Drittel stammt aus Europa und den USA. In meiner Klasse waren auch 3 Palästinenser aus dem Gazastreifen dabei. Der Grundgedanke des Arava-Institutes ist: Die Natur kennt keine Grenzen, also müssen wir zusammenarbeiten, um Umweltprobleme anzugehen.

90 Prozent des Lehrplans waren wissenschaftliche Kurse wie GIS, Wassermanagement und Umwelterziehung. Aber wir hatten auch ein Treffen pro Woche, das als Programm zur Friedensbildung diente. Dabei trafen wir uns jede Woche für drei Stunden, um über unsere eigene Geschichte, Traumata und Gefühle zu sprechen.

Diese Treffen waren für mich am wichtigsten, um meine Freunde zu verstehen, die andere Seite zu sehen und die verschiedenen Geschichten, mit denen wir aufgewachsen sind.

Es war von Anfang an nicht leicht, sich einander zu öffnen. Es gab Ängste und Misstrauen, die seit unserer Kindheit in uns verwurzelt sind. Für viele Leute kann es sehr schwer sein, sich in solch einer Weise zu öffen, denn was dann passiert, kann das Narrativ, das du dein ganzes Leben lang gehört hast, völlig zerstören und dir zeigen, dass es daneben auch noch ein anderes gibt.

Wie lautete den das Narrativ aus Ihrer Jugendzeit?

Ich hatte eine schöne Kindheit. Ich bin in einer schönen Gegend im Zentrum von Israel aufgewachsen. Die erste Gelegenheit, Palästinenser wirklich kennenzulernen, ihre Geschichten und die Herausforderungen ihres Lebens zu hören, bot sich mir erst, als ich 24 war.

Diversity-Audit

Ob Geschlecht oder Alter, ethnische Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung: Das Audit „vielfaltsgerechte hochschule“ zertifizierte 2023 die Uni Hohenheim als eine der ersten beiden Unis für ihr Engagement in Sachen Diversity. Durchgeführt wurde es von der berufundfamilie Service GmbH. Mit dem Audit verbunden ist ein Handlungsprogramm, mit dem das Diversity-Management weiterentwickelt wird.

Auch als ich mit achtzehn meinen Militärdienst ableisten musste, war ich in einer Bildungseinheit untergebracht und kam mit dem Thema Palästina gar nicht in Berührung. Nach meinem Militärdienst bin ich um die Welt gereist, das ist bei vielen Israelis so üblich. Ich habe Menschen aus der ganzen Welt getroffen, nur keine Palästinenser. Vieles, was ich über Palästinenser gehört hatte, war negativ. Mein Bild war vor allem durch die Nachrichten über Extremisten und die Anschläge bestimmt.

Als ich jung war, hatte ich Angst vor den Arabern und der arabischen Sprache. Ich erinnere mich, dass ich mit 14 Jahren Angst beim Busfahren hatte, weil ich wusste, dass manchmal die Passagiere in Bussen angegriffen würden.

Ich wusste, dass wir uns verteidigen müssen, weil wir von allen unseren Nachbarländern und auch innerhalb des Landes bedroht werden. Und weil wir keinen anderen Platz in der Welt haben. Ich wusste nicht, dass unsere Sicherheitsvorkehrungen dazu führen können, dass andere verletzt würden.

Nach meinem Studium bin ich mit Freunden in ein arabisches Dorf in Israel gefahren, um Arabisch zu lernen. Das hat dazu geführt, dass ich mich jetzt wohler fühle, wenn ich arabisch höre. Gleichzeitig sehe ich, wie meine alten Freunde immer noch Angst vor Palästinensern und vor Arabisch haben, heute mehr denn je.

Und die Zeit am Arava-Institut hat diese Ansichten infrage gestellt?

Ich habe gelernt, dass diese Realität zwei Seiten hat.

In der High School werden wir motiviert, zur Armee zu gehen. Wir besuchen Konzentrationslager in Polen und hören, dass der Holocaust nie wieder passieren darf. Was bedeutet, dass wir uns verteidigen und eine starke Armee haben müssen.

Während meiner Zeit am Arava-Institut hörte ich meine arabischen Freunde über den Abriss palästinensischer Häuser sprechen. Und ich dachte bei mir: Die israelischen Streitkräfte reißen die Häuser anderer Menschen ab? Das kann nicht sein. Diese Art von Unterdrückung ist uns passiert. Warum sollten wir das anderen antun?

Ich wusste, dass wir Israelis gehasst wurden, aber ich wusste nicht, warum. Ich wusste von der Intifada und den Kriegen, aber ich kannte den Zusammenhang nicht. In der Schule behandeln wir den Krieg von 1948/49, den wir Israeli als den “Unabhängigkeitskrieg” bezeichnen. Wir lernen nicht, dass die Palästinenser ihn “Nakba” nennen, was “Katastrophe” bedeutet.

Umgekehrt war ich kürzlich Zeugin, wie ein Palästinenser gefragt wurde, ob sie im Geschichtsunterricht in der Schule etwas über die "Shoa" lernen. Und er sagte: Nein. Mir wurde klar: Wir kennen nicht einmal die Geschichte des jeweils anderen.

Neben der physischen Trennung zwischen Juden und Palästinensern gibt es eine kulturelle Trennung, die zu Unwissenheit, Polarisierung und Hass führt.

Und wie sind Sie nach Hohenheim gekommen?

Nach meinem Studium am Arava-Institut studierte ich plant science and agriculture an der Hebrew University in Jerusalem. Von dort kam ich im Rahmen eines Studierendenaustauschs nach Hohenheim. Hier habe ich von April bis August 2023 studiert.

Und wie hat Sie die Lehre in Hohenheim beeinflusst?

Das Studium in Hohenheim hat mir neue Perspektiven auf die Ökologie eröffnet. Außerdem habe ich interessante Menschen aus Deutschland und aus anderen Teilen der Welt kennengelernt.

Besonders beeinflusst hat mich ein Modul über Landschaftswandel, Resilienz und Ökosystemdienstleistungen von Prof. Claudia Bieling. „Resilienz“ ist ein Wort, das in Israel gerade sehr häufig gebraucht wird. Wir brauchen Resilienz, wie ein Wald seine Resilienz nach einem großen Brand benötigt.

In einem Kurs-Projekt habe ich mich im Selbststudium mit einer Gruppe von Ureinwohnern in Kanada (Williams Lake First Nation) befasst. Der Artikel, den ich dazu bekam, erklärte die Geschichte des Landes und die Geschichte der Ureinwohner, die von den Kolonisatoren vom Land vertrieben und eingezäunt wurden. Dieser Akt schadete nicht nur den Gruppen der Zivilbevölkerung, sondern auch dem Land.  Dieser Artikel gab mir Hoffnung, weil es heute eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen dem Landmanagement und den Ureinwohnern gibt.

Das Thema erinnerte mich außerdem an die aktuelle Situation in Israel und an die Trennmauern zwischen Menschen und ihren ursprünglichen Häusern und Land.

Sie haben uns bereits gesagt, dass Sie gerade dabei sind, einige der in Hohenheim erworbenen Kenntnisse anzuwenden...

Inzwischen habe ich mich für den Studiengang „Landscape Architecture“ in Jerusalem eingeschrieben. Wir hatten gestern ein Zoom-Meeting und haben gerade angefangen, darüber nachzudenken, wie man die Kibbuzim, die am 7. Oktober von den Hamas niedergebrannt wurden, wieder aufbauen kann.

Ich hatte die Idee, kurze Interviews mit den Bewohnern zu führen, die überlebt haben, um zu erfahren, wie sie sich den Wiederaufbau wünschen. Das ist eine Methode, die ich von Claudia gelernt habe.

Vor ein paar Wochen wollten Sie noch einen Master in Hohenheim machen.

In Hohenheim hatte ich bereits fünf Masterkurse absolviert, aber jetzt bin ich erst einmal an der Hebrew University eingeschrieben.

Wo ich in Zukunft sein möchte, wird von meinen Gefühlen und Empfindungen abhängen. Ich möchte in der Nähe meiner Familie sein und in der Nähe meiner Freunde – aller meiner Freunde, auf beiden Seiten dieses traurigen Konflikts.

Vielleicht kehre ich nach Hohenheim zurück, wenn die Dinge klarer und hoffentlich hoffnungsvoller werden.

Lassen Sie uns ein letztes Mal auf die Politik zurückkommen. Nach dem 7. Oktober hat die Universität Hohenheim eine Mitteilung veröffentlicht. Darin verurteilt sie die Terroranschläge gegen Israel. Und sie formuliert ihre Besorgnis, insbesondere gegenüber ihren Partnern wie der Herbrew University...

...kann ich das kurz einmal lesen?

(nachdem sie sie gelesen hat)

Diese Angriffe waren schrecklich und böse, und natürlich sollten sie verurteilt werden. Einige der Aktionen der israelischen Armee in Gaza und im Westjordanland sollten meiner Meinung nach gestoppt und kritisiert werden.

Es gibt viele Araber hier in Hohenheim. Es gibt Menschen hier, die vielleicht Freunde (wie ich) oder Familie in Gaza haben. Ich bin mit einem Satz aufgewachsen, der auf der Shoa basiert. Er lautet: „Nie wieder“ - und das bedeutet „nie wieder“ für alle. Nicht nur für Juden.

Im Moment haben wir es mit Gewalt zu tun, die noch mehr Gewalt und neue Generationen mit Traumata hervorbringt. Ich habe das Gefühl, dass jeder Tag mehr Hass mit sich bringt. Ein Hass, der unsere Chance auf eine menschenwürdige Zukunft und ein friedliches Leben hier in diesem Land zunichtemacht.

Ich glaube, die einzige wirkliche Lösung besteht darin, eine Realität zu schaffen, in der alle Menschen die gleichen Rechte haben und von den Regimen gleich behandelt werden. Egal, ob es sich dann um einen oder zwei Staaten handelt. Die Zukunft muss eine sein, in der sich jeder frei im Land bewegen und sicher und in Würde leben kann.

Gespräch: Dorthea Elsner & Florian Klebs

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