Er geht den Erfindungen der Natur auf den Grund  [06.01.24]

Wie erfindet die Natur? Das ist die Kernfrage, die Prof. Dr. Steffen Lemke umtreibt. Seit 31.8.2023 leitet er das Fachgebiet Zoologie an der Universität Hohenheim. Er hat einen ganzen Zoo an Insekten mit an das Fachgebiet gebracht, die dort bisher weniger im Fokus der Forschung standen – von Fliegen bis zu freundlichen Mücken, die sich mit Petersilie begnügen.


Bei ihm forschen die Studierenden eigentlich vom ersten Semester an. Denn Lehre, sagt er, ist eigentlich Forschung. Und umgekehrt lerne auch er selbst zusammen mit seinen Studierenden immer noch etwas dazu. Er rät ihnen, nicht nur ein erfolgreiches, sondern vor allem ein erfüllendes Studium anzustreben.


Herr Lemke, Sie treten nun in die Fußstapfen von Martin Blum. Was machen sie anders als Ihr Vorgänger?

Das ist eigentlich die falsche Frage. Ich übernehme das Team und das Fachgebiet ja von Kerstin Feistel und Axel Schweickert, die Martin Blum hier in den vergangenen zwei Jahren phantastisch vertreten haben. Ihren Elan möchte ich auf jeden Fall weitertragen! Wir lernen von der Natur, gehen ihren Erfindungen auf den Grund, versuchen uns an die Natur anzunähern. Ich glaube, das hat Martin Blum hier schon so gelebt, und das will ich auch weiterhin tun.

Klar, in jedem Fall sind es große Fußstapfen, in die ich trete. Aber gerade das ist ja sehr motivierend! Und vielleicht sind sie sogar der Grund dafür, dass ich hier bin. Martin Blum hat fantastische Entdeckungen gemacht und sicherlich die Entwicklungsbiologie geprägt. Seit ich ihn auf Konferenzen kennengelernt habe, habe ich mir schon ab und zu gedacht: Es wäre toll, wenn ich dieses Fachgebiet mal übernehmen könnte.

Sie fragten aber, was sich ändert. Nun, die allgemeine Ausrichtung Entwicklungsbiologie bleibt, doch wir bringen ein paar neue Organismen mit, denn mein bisheriger Fokus liegt auf den Wirbellosen, genauer gesagt den Insekten. Also eigentlich das perfekte Gegenstück zu den Vertebraten, an denen hier bisher und auch weiterhin geforscht wird. In der Zukunft können wir jetzt diese beiden großen Zweige, die Vertebraten und die Invertebraten, vergleichen. Eine fantastische Gelegenheit, um zu lernen, welche Eigenschaften der höheren Tiere auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, und welche unabhängig voneinander entstanden sind.

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Insgesamt sind wir also mit unseren experimentellen Systemen breiter aufgestellt, aber das Leitmotiv wird sich, wie gesagt, nicht ändern. Unsere Begeisterung für Lehre und Forschung bleibt bestehen.

Sie sagen „wir“ – ist Ihr bisheriges Team denn mit Ihnen nach Hohenheim gekommen?


Oh ja, hier in Hohenheim gibt es so viele Möglichkeiten – gleich nebenan haben wir Herrn Steidle und Herrn Rabeling in den Fachgebieten Chemische Ökologie und Integrative Taxonomie der Insekten, ein Stockwerk höher Frau Panfilio in der Molekularen Genetik, die auch Entwicklungsbiologie betreibt, und ein Stockwerk unter uns Frau Steppuhn und Herrn Schlüter in der Botanik – aber mit einem großen Interesse am Leben der Insekten und ihrem Austausch mit Pflanzen. Dazu kommen das KomBioTa und das Naturkundemuseum Stuttgart. Und wir mittendrin! Mein Team in Heidelberg hat sich über diese vielfältigen Optionen und über den Umzug nach Hohenheim sehr gefreut und kam mit.

Was mich bei diesem Umzug besonders freut: die Chemie stimmt. Wir sind hier sehr herzlich empfangen worden, und der Austausch zwischen den aus Heidelberg dazukommenden Mitarbeiter:innen und den Mitarbeiter:innen hier klappte auf Anhieb. Wir alle haben ein gemeinsames Interesse an der Lösung ähnlicher Fragestellungen, und so wachsen wir im Moment ganz natürlich zusammen. Die Hohenheimer haben Expertise mit anderen Organismen, aber auch wie wir ein großes Interesse an Insekten und umgekehrt. Im Moment ist das eine Phase gegenseitiger Befruchtung, für die ich einfach nur dankbar sein kann.

Heidelberg war Ihre letzte Station vor Hohenheim?

Ja, dort habe ich meine Arbeitsgruppe aufgebaut. Und natürlich gibt es auch an der Uni Heidelberg ein bereicherndes Umfeld. Aber es ist alles etwas größer dimensioniert. Was mich vor allem geprägt hat, war meine Zeit in den USA, an der University of Chicago. Eine große Uni, aber doch auch irgendwie ein kleiner Campus, mit einer sehr großen Nähe zwischen Studierenden und Lehrenden. Das ist ein Potenzial, das ich auch in Hohenheim sehe, und auf das ich mich sehr freue.

Ursprünglich komme ich aus Wuppertal. Ich habe in Göttingen studiert, da ich an eine große Uni wollte. Kurz vor dem Abschluss kamen dann die ersten strukturierten Promotionsprogramme zusammen mit der Max-Planck-Gesellschaft auf. Und das Portfolio zur Entwicklungsbiologie war so spannend… Mein Labor ist dann in die USA umgezogen. Da wollte ich ohnehin gerne mal hin und bin mitgegangen.

Was fasziniert Sie an Ihrem Fachgebiet?

Ich glaube, mich fasziniert vor allem seine Größe – Zoologie ist ja riesig! Als Student habe ich das Fachgebiet noch recht eng wahrgenommen, das war überwiegend Taxonomie. Dann kam die Entwicklungsbiologie dazu. Als Postdoc schließlich die Elemente Formenvielfalt, das Auslesen des Genoms als Datenträger und die Umsetzung in die Gestalt. Und dann die Evolution, durch die die heutige Vielfalt entstanden ist.

Insgesamt ist das Fach wissenschaftlich alles andere als langweilig, und ich finde es wunderbar, auch bei den Studierenden diesen breiten Blickwinkel mitprägen zu können. Wie sind aus Einzellern Vielzeller hervorgegangen? Wie geschah der Übergang an Land? Und wie wurde die Luft als neuer Lebensraum entdeckt? Kurzum: Welche Erfindungen hat die Natur hervorgebracht? Dabei lerne ich selber immer weiter dazu, zusammen mit den Studierenden.

Mit welchen konkreten Forschungsthemen beschäftigen Sie sich denn derzeit?

Die übergeordnete Frage ist: Wie erfindet die Natur? Wie kommt es zu diesen Erfindungen, und wie reagiert die Natur auf sich ändernde Umweltbedingungen? Und können wir auch auf molekularer Ebene verstehen, was da vor sich geht?

Ein konkretes Forschungsthema ist zum Beispiel die Frage, ob und wie Insekten – zum Beispiel Fliegen – in frühen Entwicklungsstadien auf Temperatur reagieren. Einfache Prozesse wie die Teilung eines Zellkerns sind temperaturabhängig. Wir haben auch strukturelle Gegebenheiten gefunden, die eine Temperaturwahrnehmung ermöglichen.

Das heißt, wenn sich die Temperatur auf der Erde verändert, wirkt sich das auf die Fliegen aus?

Ja. Dazu wurden bereits von anderen Arbeitsgruppen Populationen in verschiedenen Erdteilen untersucht, also entlang eines Temperaturgradienten. Dabei wurde festgestellt, dass Gene, die einen Organismus temperaturempfindlich machen können, entlang dieses Gradienten variieren. Das sind erste Hinweise, aber in einigen Jahren können wir das überprüfen und dann auch in die Zukunft projizieren, wie etwa Fliegen auf veränderte Temperaturen reagieren.

Fachgebiet Zoologie

Am 31.8.2023 übernahm Prof. Dr. Steffen Lemke das Fachgebiet. Es wurde in unveränderter Ausrichtung wiederbesetzt, nachdem sein Vorgänger Prof. Dr. Martin Blum in den Ruhestand trat. mehr


In einer Kooperation mit Japan haben wir außerdem festgestellt, dass es nicht die Gene allein sind, die Erfindungen der Natur beeinflussen. Wir dachten ja immer, dass sich einzelne Positionen in den Genen ändern und dass über die damit verknüpften Eigenschaften eine Selektion stattfindet. Doch auch mechanische Zwänge können eine Rolle spielen.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Bei der Entwicklung aller Tiere bildet sich zunächst eine hohle Zellkugel, die sich anschließend faltet und zu Organen etc. entwickelt. Unter dem Mikroskop wirkt das erstaunlich koordiniert, eine beeindruckende Leistung der Natur.

Früher dachten wir, dass die Programme der Zellen räumlich und zeitlich präzise aufeinander abgestimmt sind. Denn der Raum ist begrenzt und verschiedene Strukturen wachsen gleichzeitig, wie beispielsweise der Kopf und der Rumpf, so dass leicht Kollisionen auftreten könnten. Wir haben aber festgestellt, dass der Embryo auch Pufferzonen schafft, um Kollisionen zu vermeiden. Eine Art Knautschzone, in der sich das Gewebe falten kann, um später wieder aufgelöst zu werden. Wir interpretieren das so, dass die Genetik nicht alles ganz so präzise steuern muss.

Welche Tiere betrachten Sie dabei?

Wir haben einen ganzen Zoo an Insekten im Labor, das Spektrum reicht von Taufliegen (Drosophila melanogaster) bis hin zu Mücken. Es sind aber freundliche Mücken, keine Blutsauger: Zuckmücken (Chironomus riparius), die einfach zu halten sind und mit Petersilie gefüttert werden. Jetzt sind wir gerade dabei, das Spektrum zu erweitern. Früher hatten wir nur ein kleines Set von 10 bis 15 Fliegen-Arten, doch nun entnehmen wir Fliegen aus der Natur und erproben, welche wir gut im Labor halten können.

Unser Ziel ist es, den Stammbaum der Fliegen einigermaßen gleichmäßig abzudecken, damit wir – abgeleitet von den Eigenschaften der heute lebenden Arten – noch zuverlässigere Aussagen über das Leben der Fliegen in der Vergangenheit machen können – in gewisser Weise wie ein Fenster in die Zeiten der Dinosaurier oder noch früher.

Können sich Studierende an Ihrer Forschung beteiligen?

Aber ja, diese Möglichkeit besteht vom ersten Semester an, mit dem ersten Tag im Praktikum! Lehre ist doch forschen, zumindest empfinde ich das so. Klar, den Forschungsgedanken in die Lehre zu tragen ist mit 70 bis 80 Studierenden im Saal nicht immer einfach. Aber ein Kernelement ist etwa, dass wir gemeinsam Objekte untersuchen, ohne genau zu wissen, was uns erwartet.

Wenn alle Studierenden ein Präparat vor sich haben, dann können wir es zum Beispiel an die Tafel projizieren. Der Praktikumsraum ist dafür übrigens optimal ausgestattet, mit seinen angeschlossenen Kameras. Dann können wir gemeinsam erarbeiten, was wir sehen. Jede:r kann Hypothesen aufstellen, und wir überlegen zusammen, wie wir sie testen können. So geht Forschung, egal auf welchem Level.

Wird es auch Humboldt reloaded-Projekte geben? Herr Blum…

…war der Initiator von Humboldt reloaded. Ja, selbstverständlich werden wir auch diesen Geist weitertragen und Humboldt reloaded-Projekte anbieten.

Wann ist eine Lehrveranstaltung eine gute Lehrveranstaltung?

Wenn ich es schaffe, meine Begeisterung für die Forschung den Studierenden nahezubringen, und sie den Eindruck haben: so habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht, jetzt wird es spannend. Dabei ist jeder Tag, jede Vorlesung mich eine neue Herausforderung ohne ein festes Schema. Und zugegeben: Das klappt nicht immer! Aber ich lerne gerne dazu und freue mich deshalb auch sehr über Feedback.

Hätten Sie einen Tipp für ein erfolgreiches Studium?

Ich weiß nicht, der Begriff „erfolgreiches Studium“ gefällt mir nicht so richtig. Studium ist doch Lebenszeit, und Erfolg ist da vielleicht etwas schwierig zu definieren. „Erfüllt“ wäre meiner Meinung nach treffender. Studierende haben die Möglichkeit, ihr Studium nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten und das zu tun, was sie persönlich weiterbringt.

Sicherlich finden sich nicht alle Wünsche im Curriculum wieder. Aber gerade das ist doch phantastisch, das ist doch DER Unterschied zur Schule! Wenn Studierende Interesse an Aktivitäten haben, die nicht explizit im Lehrplan enthalten sind, dann haben sie ja die Möglichkeit, das selbst in die Hand zu nehmen und sich etwa an uns Lehrende zu wenden. Am Ende sollte das Studium eine erfüllende Zeit sein. Was das genau bedeutet, ist natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Apropos erfüllende Zeit – was machen Sie denn in Ihrer Freizeit, Herr Lemke?

Ich schätze die Zeit mit meiner Familie und genieße es, im Urlaub in den Alpen zu wandern. Ich kann mich aber auch problemlos zwei Wochen am Strand entspannen. Daneben ist Fotografie eine Leidenschaft von mir, und ich lese sehr gerne, auch wenn die Zeit dafür leider oft knapp ist.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Elsner


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